Rassismus in Deutschland : Probleme mit dem R-Wort
Die iranisch-deutsche Journalistin Gilda Sahebi hat sich auf die Spuren des Rassismus in Deutschland gemacht. Dieser sei gesellschaftlich erlernt.
Es ist nicht lange her, da stand das Wort "rassistisch" in Deutschland auf einer Art Index. Noch als in den 1990er-Jahren von Hoyerswerda über Rostock bis nach Mölln und Solingen immer wieder Menschen in ihren Häusern angegriffen wurden, war unisono von "ausländer-" oder "fremdenfeindlichen" Anschlägen die Rede. Die von der Ampel-Regierung eingesetzte Staatsministerin Reem Alabali-Radovan ist die erste Beauftragte für Antirassismus und der von ihr 2023 vorgestellte Lagebericht zu "Rassismus in Deutschland" der erste seiner Art.
Klare Kante: Aktion gegen Rassismus im Weserstadion vor dem Bundesliga-Spiel des SV Werder Bremen gegen Eintracht Frankfurt am 30. März.
Buch erweitert Debatte über die Migrationsgesellschaft
Normal ist das Sprechen über Rassismus aber deswegen noch lange nicht, argumentiert nun Gilda Sahebi in einem Buch, das der seit Jahren geführten Debatte über die Migrationsgesellschaft durchaus ein paar neue Aspekte hinzufügt. Es beginnt mit einer Anekdote, wie die iranisch-deutsche Journalistin mehrmals wüste Beschimpfungen in sozialen Medien wie in der Boulevardpresse erlebte, wenn sie "rassistische Debatten" beschrieb: "Rassismus gibt es nicht, und wer das Gegenteil behauptet, hasst Deutschland (oder die Deutschen)", sei eine weitverbreitete Auffassung konstatiert Sahebi und fügt an: "Eine einigermaßen kühne Schlussfolgerung."
Denn natürlich ist hinlänglich belegt, dass es Rassismus gibt. Und zwar nicht, weil Menschen sich in Rassen einteilen ließen - das lassen sie sich nicht -, sondern weil manche Gruppen aufgrund bestimmter Merkmale für weniger wert erklärt, diskriminiert und ausgegrenzt werden. Welche Merkmale das sind, und wie stark Rassismen wirken, wird von der jeweiligen Gesellschaft bestimmt. Wenn Sahebi schreibt, dass Rassismus "nichts Außergewöhnliches" ist, ist das ein so klares wie im Grunde auch unaufgeregtes Statement. Wir alle lernen Rassismus - oder, wie der Titel ihres Buchs nahelegt, wir bringen ihn uns bei. Wie weit das geht, illustriert die Erzählung einer Stanforder Sozialpsychologin: Als ihr fünfjähriger Sohn auf einer Reise einen schwarzen Mann erblickt, löst das bei ihm gleich zwei Reaktionen aus: 1. Der sieht ja aus wie Papa. 2. Hoffentlich raubt er nicht das Flugzeug aus.
Rückblick auf Entstehung des deutschen Abstammungsrechts
Sahebi spürt jedoch statt den weit besser erforschten US-amerikanischen den spezifisch deutschen Rassismen nach. Wie alle Kolonialmächte rechtfertigte auch Deutschland die Etablierung ausbeuterischer Strukturen damit, es gäbe ein höhergestelltes "Wir" und ein minderwertiges "Die". Anders als anderswo galt das nicht nur in Übersee, sondern auch in Osteuropa, wo die deutsche Landnahme begann, lange bevor Adolf Hitler den Raum von Polen bis Russland zum "deutschen Indien" erklärte.
Der Rückblick in das Kaiserreich illustriert die Entstehung des bis heute zentralen Begriff des "Volkes" ebenso wie das typisch deutsche Abstammungsrecht "ius sanguinis", das allein die "Blutszugehörigkeit" betrachtet, und das erst 2000 durch das Geburtsortprinzip (ius soli) ergänzt wurde. Die Analyse der Expansionspolitik in Osteuropa legt aber auch Rassismen offen, auf die auch in Deutschland oft nur selbstorganisierte Gruppen aufmerksam machen: Es gibt auch antislawischen, antipolnischen, antirussischen Rassismus.
Gilda Sahebi:
Wie wir uns Rassismus beibringen.
Eine Analyse deutscher Debatten.
S. Fischer,
Frankfurt/M. 2024;
464 Seiten, 26,00 €
Damit ist im Grunde bereits gesagt, dass menschenfeindliche Ideologien in einem breiteren Kontext als oft üblich besprochen werden. Nach dem 7. Oktober 2023 gilt das zumal. Das Buch ist aktuell genug, um auch die seither noch stärker polarisierte Debatte kritisch zu beleuchten. Die Unterstützung von Palästinensern sei möglich, ohne Antisemitismus zu verbreiten, schreibt Gilda Sahebi, ebenso wie die Unterstützung von Israel ohne gleichzeitigen Rassismus. Macht sie es sich hier ein bisschen einfach, fragt man sich, doch ein Beleg folgt: Ein Beitrag des "Süddeutsche Zeitung"-Journalisten Ronen Steinke, der angesichts von Pro-Hamas-Demonstrationen in Berlin ein hartes Eingreifen des Rechtsstaats fordert, ohne in eine stereotype Erzählung zu verfallen.
Als weniger ausgewogen identifiziert Sahebi die beiden Reden, mit denen sich nach dem Massaker der Hamas Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Wort meldeten. Während Habeck an die "hier lebenden Muslime" appellierte, adressierte der Bundespräsident "die Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln", jeweils mit der Aufforderung, sie sollten sich von Antisemitismus distanzieren. Das Buch zitiert dazu unter anderem einen treffenden Twitter/X-Post des "Zeit"-Journalisten Yassin Musharbash, der seit mehr als 20 Jahren so kritisch und fundiert wie kaum ein anderer islamischen Extremismus analysiert: Er sei so ein Mensch mit arabischen Wurzeln, und: "Fürs Protokoll: Ich fühle mich ausgegrenzt. Danke für nichts."
Erstaunlich kurz gerät die Analyse der Wahlerfolge der AfD. Das abschließende Plädoyer Sahebis, sich nicht nur zum Schutz von Minderheiten für Demokratie zu engagieren, lässt sich indes nur in Zusammenhang mit diesen lesen: "Es braucht Menschen, die verstehen, dass der Einsatz gegen Rassismus, gegen Menschenfeindlichkeit, für sie selbst ist." Denn setze sich die Mehrheit nicht für eine vielfältige, freie Gesellschaft ein, werde es diese nicht mehr lange geben.
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