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Buchrezension : Stephan Lamby über das Regieren in Zeiten des Krieges

Der Krieg in der Ukraine stellt die Ampelkoalition auf eine harte Probe. Der Journalist Stefan Lamby dokumentiert das kritisch, aber ohne Spott und Häme.

30.09.2023
True 2025-02-20T15:17:51.3600Z
4 Min
Foto: picture alliance/dpa/Russian Pre

Vergeblicher Appell: Wenige Tage vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine wirbt Bundeskanzler Scholz bei Russlands Präsident Putin für den Frieden.

Die Ampelregierung geht mittlerweile in ihr drittes Jahr. Während in diesen Wochen in den Redaktionen Zwischenzeugnisse geschrieben werden, hat der Journalist und Filmemacher Stephan Lamby eine ausführlichere Halbzeitbilanz vorgelegt: Als dreiteilige Dokumentation in der ARD und in Buchform als 400-seitige Zwischenbilanz des rot-grün-gelben Regierens. Lamby ist sehr nah dran an den Akteuren, er begleitet Kanzler und Kabinettsmitglieder im Regierungs-Airbus, bei Staatsbesuchen, sucht das Hintergrundgespräch. Seine These: Dieser Regierung, die sich als selbst ernannte "Fortschrittskoalition" vor zwei Jahren aufmachte, Verkrustungen im Land aufzubrechen, ist mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 der Boden unter den Füßen weggerissen worden: "Sie hatte sich vorgenommen, Deutschland gesellschaftspolitisch und industriepolitisch zu modernisieren und das Land in eine klimaneutrale Zukunft zu führen." Nun aber fänden sich Olaf Scholz, Robert Habeck, Annalena Baerbock, Christian Lindner und die anderen in einer Situation wieder, in der sie verzweifelt versuchen dem Land ein Stück Normalität zu sichern, seinen Wohlstand zu wahren. "Aus der Koalition der Reformer wird eine Koalition der Bewahrer."

Sehendes Auges in die Energieabhängigkeit mit Russland geführt

Lamby skizziert, wie die Koalition von Union und SPD das Land sehenden Auges in eine fatale Energieabhängigkeit von Russland geführt hat - und wie die Ampel versucht, sich aus dieser Verwicklung zu lösen: mit im Eiltempo errichteten LNG-Terminals und kniefällig wirkenden Besuchen bei Scheichs am Golf. Er beschreibt, wie die Kabinettsmitglieder und Koalitionsspitzen mit dem Kurs zur Unterstützung der Ukraine und zur sicherheitspolitischen Neuaufstellung ringen: tastend, mit Widerständen in den eigenen Parteireihen kämpfend, lang gehegte Gewissheiten beiseite schiebend. Grüne, die für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet eintreten, Sozialdemokraten, die sich mit Steigerungen im Militäretat und mit bewaffneten Drohnen anfreunden, Liberale, die bereit sind, dafür ein beträchtliches Sondervermögen aufzulegen, heißt: einen weiteren Schuldenberg aufzutürmen.

Das Buch lässt sich als Anwendungsfall von Max Webers berühmter Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik lesen. Wir betrachten Politiker, die sich von manchem programmatischen Überschuss lösen und gerade deshalb in den ersten Monaten des Krieges auf Zustimmung in einer verunsicherten Bevölkerung hoffen dürfen. Immer wieder wird deutlich, wie sich die Angst "tief in die Gemüter" der Beteiligten frisst: Vor Engpässen in der Energieversorgung, vor politischen Spannungen im Land. Vor der Frage, ob der russische Präsident zum Äußersten bereit ist, vor dem Einsatz von Atomwaffen.

Im Sturzbach des Geschehens scheinen die Beteiligten die langen Linien nicht mehr zu sehen. Hinter den Jubel über die schnelle Einweihung eines LNG-Terminals setzt der Autor ein dickes Fragezeichen. Was, bitte schön, gibt es für eine klimapolitisch ambitionierte Regierung hier zu feiern?

Lamby wahrt Abstand nicht konsequent

Es zeichnet Lambys Buch aus, dass er die Spitzen der Ampel kritisch beobachtet, sich aber Spott oder gar Häme verbietet. Sein Blick ist zugewandt, nicht abgeklärt, distanziert, aber nicht kalt. Den Abstand wahrt er aber nicht konsequent. Wenn der Autor sich selbst beschreibt, wie er in die Kanzler- und Ministerbüros zum Hintergrundgespräch eingelassen wird, durchbricht er die gebotene Distanz. Wer ein "Ich" ins journalistische Genre einführt, sollte dafür gewichtige Gründe haben. Lamby hat sie nicht. Im Buch gelingt ihm andererseits, was in der TV-Dokumentation zu kurz kommt: Die Einordnung des Geschehens, die Verknüpfung der Beschreibung des Augenblicks schwieriger Entscheidungen mit Aus- und Rückblicken.

Je näher die Darstellung an die Gegenwart rückt, desto mehr weicht die anfängliche Einigkeit dem Streit der Koalitionäre. Ob Gasumlage, AKW-Streckbetrieb oder Heizungsgesetz: Die Ampel versinkt immer mehr im Streit, macht handwerkliche Fehler, missgönnt sich Erfolge und Umfragewerte. Das Buch zeigt, wie Scholz und Habeck, Lindner und Baerbock zu Getriebenen der Opposition, der Boulevard-Schlagzeilen und der nächsten Tweet-Grätsche aus den eigenen Reihen werden. Freimütig gesteht Habeck ein, dass das Ampel-Regieren nicht ohne das Beifügen von Wunden auskommt. Er habe aber "keine blutende".

Atemlosigkeit im Zentrum der Macht

Lamby ist mit "Ernstfall" eine Dokumentation gelungen, die die Atemlosigkeit im Zentrum der Macht im Zeichen der Krise einfängt. Insofern gibt es durchaus Parallelen zum Kollegen Robin Alexander, der mit "Die Getriebenen" einst das Buch zur Flüchtlingskrise vorgelegt hat. Beim Lesen solcher Langzeitbeobachtungen stellt sich ein paradoxer Effekt ein: Sie zeichnen mit großer Dringlichkeit ein Gegenwartsgeschehen nach, das sie bei Drucklegung eigentlich schon historisieren. Das ist auch bei Lamby so. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine verliert nicht seinen Schrecken. Aber der Blick auf diesen Schock wird mit dem zeitlichen Abstand abgeklärter.

Etwas mutlos fällt das Resümee des Buches aus. Wenn es richtig ist, dass sich die Welt gerade in neue Blöcke sortiert, wenn weiterhin die Beobachtung zutrifft, dass die Welt in eine Klimakatastrophe schlafwandle, dann könnte man auch Zuversicht aus den Verhandlungs- und Entscheidungsprozessen schöpfen, die Lamby eindrücklich, aber gewissermaßen nur unter größten Sorgenfalten beschreibt: Die Fähigkeit zur Selbstkorrektur der Demokratie. 

Stephan Lamby:
Ernstfall
Regieren in Zeiten des Krieges. Ein Report aus dem Inneren der Macht.
C.H. Beck,
München 2023;
400 Seiten, 26,90 €