Jugoslawienkriege : Todfeinde Tür an Tür
Der Journalist Norbert Mappes-Niediek legt mit "Krieg in Europa" eine Gesamtdarstellung der Konflikte vor.
Was im Zehn-Tage-Krieg in Slowenien (1991), im Kroatien- und im Bosnienkrieg (1991/92 bis 1995) und schließlich im Kosovokrieg (1998 bis 1999) geschah, konfrontierte Europa erneut mit den Gespenstern des 19. und 20. Jahrhunderts: Nationalismus, Feindschaften bis auf Blut, Vertreibungen und "ethnische Säuberungen", Belagerungen und der Beschuss von Städten wie Vukovar, Mostar und Sarajewo, Massenmorde an Zivilisten und der Völkermord von Srebrenica - all das passte so gar nicht ins Selbstbild eines nach Frieden strebenden und sich einenden Europas, das Grenzen abschütteln wollte und das mancher mit dem "Ende der Geschichte" (Francis Fukuyama) an der Seite der USA bereits auf dem Siegeszug der Demokratie dahinschreiten sehen mochte.
Bosnienkrieg: Zivilisten in Sarajewo suchen Schutz vor dem Beschuss durch bosnisch-serbische Truppen während ein Kämpfer der bosnisch-herzegowinischen Republik das Feuer erwidert.
Unter dem Titel "Krieg in Europa" hat der Journalist Norbert Mappes-Niediek ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen eine lesenswerte Darstellung vorgelegt, die die Ursachen des Zerfalls Jugoslawiens nachzeichnet, die Dynamiken der Konflikte freilegt und die Rolle westlicher, europäischer, auch deutscher Diplomatie kritisch hinterfragt. Institutionen wie die Vereinten Nationen, die Europäische Gemeinschaft und OSZE hätten sich bereits damals einem Konflikt dieser Größenordnung nicht gewachsen gezeigt, lautet eine der Thesen. Europa, so der Untertitel des Buches, habe sich als "überforderter Kontinent" erwiesen.
Wie können Nachbarn über Nachbarn herfallen?
Immer wieder kommt das Buch auf eine Frage zurück, die bereits die Zeitgenossen beschäftigte: Wie konnte es dazu kommen, dass Nachbarn übereinander herfielen, die über Jahrzehnte Haus an Haus, Tür an Tür lebten? Dass das jugoslawische Tito-Regime ethnische Spannungen überdeckte, ausbalancierte, nie aber überwand, ist ein Teil von Mappes-Niedieks naheliegender Antwort. Dass diese Spannungen im Umbruch seit 1989 bewusst instrumentalisiert wurden und sich schließlich in blutigen ethnischen Konflikten Bahn brachen, ein anderer.
Der Autor, der seit 1991 als Südosteuropa-Korrespondent verschiedener Zeitungen Zeuge des Zerfalls Jugoslawiens war, macht es sich mit der Suche nach Erklärungen nicht einfach. Er wirbt nirgendwo um Verständnis, versucht aber die Motive der Konfliktparteien zu verstehen: So wie sich die Mehrheit der Kroaten spätestens ab 1991 als bedrängte Minderheit innerhalb Jugoslawien gefühlt hätten, so hätten sich nunmehr viele Serben als schutzbedürftige Minderheit innerhalb Kroatiens empfunden, lautet etwa ein Befund. In den "ethnischen Säuberungen" macht der Autor ein wiederkehrendes Kalkül sichtbar. "Auf dem Boden des Vielvölkerstaates Jugoslawien sollten nach ihrem Wunsch Nationalstaaten nach dem üblichen europäischen Muster entstehen - ein Serbien für die Serben und ein Kroatien für die Kroaten, so wie es Italien für die Italiener und ein Deutschland für die Deutschen gab." Mit diesem Muster fühlten sich die Akteure "vor der Geschichte gerechtfertigt". Und für alle Seiten habe gegolten, was der Schriftsteller Dzevad Karahasan über die bosnische Gesellschaft gesagt habe: Jeder hier habe den "anderen als Beweis für seine eigene Identität" gebraucht.
Porträt der Akteure mit sicherem Strich
Kein gutes Haar lässt der Autor an den westlichen diplomatischen Interventionen. Häufig seien sie an der Unkenntnis der Motivlagen, Zugzwänge und Erfahrungen der Konfliktparteien gescheitert . Ein Beispiel ist ihm die von der Regierung Kohl und Genscher in Bonn betriebene frühzeitige Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch die Europäer, die Bosnien, bisher noch "im Auge des Orkans", erheblich unter Zugzwang gesetzt und die Zentrifugalkräfte zwischen Bosniern, Kroaten und Serben beschleunigt habe. "Muslime und Kroaten sahen sich genötigt, nun rasch die Unabhängigkeit anzusteuern, wollten sie nicht zur Beute eines auftrumpfenden Milosevic werden". Dass sie die Bosnier vor eine Wahl zwischen "Pest und Cholera" gestellt hätten, sei "europäischen Chefdiplomaten gar nicht bewusst" gewesen.
Einer heute viel diskutierten Frage wirft das Buch im letzten Kapitel auf: Lieferte die durch keine UN-Sicherheitsratsresolution gedeckte Intervention der Nato im Kosovo gegen Serbien die Blaupause für die russische Besetzung der Krim im Jahr 2014? Mappes-Niediek hält dafür zwei Antworten parat: Der Kosovokrieg 1999 sei ein "Präzedenzfall", er stehe am Beginn eines Jahrzehnts westlicher Interventionen unter dem Schlagworten "Regimechange" und der Debatte um die Reichweite internationaler Schutzverantwortung. Zur Wahrheit gehöre in Bezug auf Russland aber auch: "Am Ende griff die übergangene Weltmacht das Nachbarland in voller Front an, ohne sich für ihren Überfall auch nur einen Vorwand zu suchen. Von der neuen Weltordnung war nichts übrig geblieben. Nicht einmal der Weg zurück zur alten war noch offen".
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Mappes-Niediek hat die im deutschprachigen Raum erste umfassende Gesamtdarstellung der Jugoslawienkriege vorgelegt. Lesenswert ist sein Buch nicht zuletzt auch deshalb, weil er mit sicherem Strich die Akteure zu porträtieren weiß, hießen sie nun Slobodan Milosevicć, Franjo Tudjman, Alija Izetbegovic, Ibrahim Rugova oder Richard Holbrooke. Er vergisst aber auch jene Namen nicht, über die die Geschichte so oft hinweggeht. Wie zum Beispiel Josip Reihl-Kihr, der 35-jährigen Polizeichef im ostlawonischen Osijek. Unablässig versuchte er in diesem Frühsommer 1991, dem Wahnsinn des heraufziehenden Bruderkrieges etwas entgegenzusetzten. Vergeblich: Reihl-Kihr starb bei einem Mordanschlag, es waren Kugeln seiner "eigenen" Landsleute. Leute, denen ethnische Spannungen damals längst zum Elixier geworden waren.
Norbert Mappes-Niediek:
Krieg in Europa.
Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent.
Rowohlt,
Berlin 2022;
400 Seiten, 32,00 €