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Foto: picture alliance/PIC ONE/Stefan Müller
Aktivisten von der Gruppe "Letzte Generation" blockieren die Stadtautobahn in Berlin.

Polarisierung : Was die Gesellschaft triggert

Trotz aller Konflikte hält der Soziologe Steffen Mau die deutsche Gesellschaft für viel weniger polarisiert als vielfach angenommen.

14.10.2023
True 2024-07-11T11:34:22.7200Z
3 Min

Das englische Wort "Trigger" stammt aus der Kybernetik, laut Duden handelt es sich um ein "Schaltelement zum Auslösen eines anderen Schaltvorgangs". Im Deutschen wird es heute vor allem in Psychologie und Physiotherapie verwendet, wenn bestimmte Reize bei Menschen heftige emotionale Reaktionen auslösen. Die Berliner Wissenschaftler Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westhuser haben den Begriff nun auf die soziologische Forschung übertragen. In ihrem Buch "Triggerpunkte" untersuchen sie auf empirischer Basis zentrale Kontroversen und Konfliktlinien, die gesellschaftliche Polarisierung befördern. Das Konzept zielt auf "jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen".

Studienleiter Mau ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, seit 2021 gehört er dem Sachverständigenrat der Bundesregierung für Integration und Migration an. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er durch sein Buch "Lütten Klein", einer von persönlichen Erfahrungen inspirierten Sozialgeschichte jenes Plattenbauviertels in Rostock, in dem der Autor aufgewachsen ist. In unmittelbarer Nähe liegt der Ortsteil Lichtenhagen, der Anfang der 1990er Jahre durch gewalttätige Angriffe auf Asylbewerber und Vertragsarbeiter traurige Berühmtheit erlangte.

Spaltungsdiagnosen keineswegs ein neues Phänomen

In der Einleitung nutzt das Forschungsteam einen bildlichen Vergleich aus der Tierwelt. Die "Kamelgesellschaft" symbolisiert mit zwei Höckern die tiefe Spaltung in verfeindete ideologische Lager. Ein prägnantes Beispiel dafür sind spätestens seit der Trump-Präsidentschaft die Vereinigten Staaten. Dem steht die harmonischer strukturierte "Dromedargesellschaft" gegenüber: Eine einzige breite Erhebung auf dem Rücken soll illustrieren, dass die politischen Akteure wie auch ihre Wählerschaft viel stärker zur gesellschaftlichen Mitte tendieren als zu den Rändern, dort ohne grundsätzliche Vorbehalte miteinander kommunizieren und kooperieren.

Diese Beschreibung, signalisieren die Verfasser schon auf den ersten Seiten, passe besser zur Situation in Deutschland. Trotz aller Debatten über Politikverdrossenheit und hoher Umfragewerte für die Protestpartei AfD sei die deutsche Gesellschaft im internationalen Vergleich wenig gespalten, es gebe eine relativ geringe "affektive Polarisierung". Dazu trage auch das Verhältniswahlrecht bei, im positivem Kontrast etwa zum Zwei-Parteien-System in Großbritannien mache es kleinere Parteien und Strömungen parlamentarisch sichtbar.

In einem besonders interessanten Kapitel kritisieren Mau, Lux und Westhuser die ständigen "Spaltungsdiagnosen", die in der Historie immer wieder auftauchen, also keineswegs ein neues Phänomen sind. Ist die aktuell viel bemühte These von der Polarisierung also aufgebauscht, nur herbeigeredet?

Arenen des Konflikts

Im empirischen Teil untersuchen die Wissenschaftler vier Triggerpunkte als zentrale "Konfliktarenen der Ungleichheit": Soziale Gegensätze zwischen Arm und Reich (Oben-Unten), Migration (Innen-Außen), Identitätspolitik (Wir-Sie) und Klimaschutz (Heute-Morgen). Zweifellos sind damit wichtige Felder der aktuellen politischen Auseinandersetzung benannt, doch die Fokussierung wirft auch Fragen auf: Zwei äußerst umstrittene und emotional besetzte Themen aus jüngster Zeit, der Umgang mit der Corona-Krise und mit dem Krieg in der Ukraine, werden ausgespart. Unerklärt bleibt, ob das an den zu früh erhobenen Daten liegt oder welche Gründe es sonst dafür gibt. Problematisch ist es auf jeden Fall.


Steffen Mau, Thomas Lux, Liinus Westheuser:
Triggerpunkte.
Konsens und Konflikt.
Suhrkamp,
Berlin 2023;
540 Seiten, 25 Euro


Denn die politische "Taxonomie", die die Wissenschaftler im zweiten Teil des Buches entwickeln - die Grünen stehen immer ganz oben auf der progressiven Skala, die AfD fungiert stets weit unten - ist gerade bei diesen beiden vernachlässigten Debatten nicht besonders stimmig. Neben den Rechtspopulisten sind auch Teile der Linken gegen Waffenlieferungen, warnen vor der Gefahr eines Atomkriegs und plädieren für mehr Diplomatie. Und vor allem Liberale, allen voran Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP), haderten, neben kritischen Wissenschaftlern und den besonders betroffenen Künstlern, mit der Einschränkung von Freiheitsrechten während der Pandemie.

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Solche widersprüchlichen und irritierenden Konstellationen müssten eigentlich ein besonderes wissenschaftliches Interesse wecken. Zudem stützen sie in besonderem Maße die "Dromedar"-These von Mau, Lux und Westhuser, der zufolge eine klare Polarisierung in Deutschland gar nicht existiert.

Das Forschungsdesign aber führte in der Auswertung dann doch wieder zu etwas schablonenhaften Ergebnissen - und bestätigt so die alte Theorie von politisch konträren Welten in modernisierter Form. Dennoch sind die "Triggerpunkte" eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Bücherherbstes.