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Glosse : Kreative Ferien mit der Bahn

Bei der Bahn ist ein verspäteter Zug mittlerweile Normalzustand. Jammern hilft da nicht weiter. Vielleicht sollte man die gewonnene Zeit als Geschenk betrachten.

26.06.2023
2024-01-24T14:13:46.3600Z
2 Min

Die Deutsche Bahn hat bekanntlich nur vier Probleme: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Sie kommt oft spät oder manchmal überhaupt nicht, denn irgendwo ist immer eine Weiche gestört, brennt eine Böschung oder wird gestreikt. Und kaum beginnen in einigen Bundesländern die Ferien, füllt sich das Schienennetz mit Großbaustellen und eine Zugfahrt von Bochum nach Essen fühlt sich an wie eine Fernreise, nur ohne Strand.

Wer später kommt, hat länger Zeit

Wobei man, zum Beispiel, auch in Jena-Paradies schön stranden kann. Dort gibt es nahe des Bahnhofs einen großen Park, in dem man spontan Einheimische treffen, skaten oder Sonnenbaden kann, während der ICE ausgetauscht wird. Überhaupt kann eine lange Bahnreise mit all ihren Um- und Irrwegen viel Schönes hervorbringen. Wer das Meeting mit der Geschäftsführung in Oberhausen verpasst, weil wieder kein Lokführer da ist, kann stattdessen - getreu dem Motto "Wer später kommt, hat länger Zeit" - mit Cappuccino und Apfelkuchen in der DB-Lounge abhängen, eine Oper komponieren oder endlich den Roman schreiben, den angeblich jeder zweite in diesem Land schon immer schreiben wollte.

Auch US-Bestsellerautor T.C. Boyle hatte dazu auf seiner Lesereise durch Deutschland reichlich Gelegenheit. Die ungeplanten Kreativpausen in der DB-Lounge rissen den Literaten auf Twitter zu der Vermutung hin, die Bahn würde wohl "von den Fluggesellschaften beraten". Doch die tat, regelrecht erwartungsvoll, kund: "Lieber Mister Boyle, wir tun alles, was wir können, um Ihnen genügend Zeit zum Schreiben zu geben". Da hätte Hemingway, der seine Bücher auf dem Klo geschrieben haben soll, nicht schlecht gestaunt: Zugfahren mit Kulturauftrag. Das gibt es wirklich nur in "good old Europe".