Parlamentarisches Profil : Der Erreichbare: Helge Lindh
Der SPD-Politiker setzt sich für Bürgerräte zur Stärkung der Demokratie ein. Anpassen um jeden Preis mag sich der Wuppertaler mit finnischen Wurzeln nicht.
Dass das Abgeordnetenleben kein Zuckerschlecken ist, erfährt Helge Lindh in diesem Moment. Es ist 20:15 Uhr, er schleicht sich aus einem Festakt im dritten Stock des Reichstages, nach einem langen Tag im Plenarsaal. Vor einer Stunde noch hatte er dort eine Rede über Bürgerräte gehalten, morgen muss er zweimal reden, nun, am Abend, bereitet er sie vor. Aber dann ist da noch dieses Interview. "Gestern Nacht hatte ich mir einen Wecker gestellt, damit ich noch über die Bundestagsreden nachdenke, ich spreche ja frei", sagt er, "aber dann bin ich doch wieder eingeschlafen". Andererseits scheint Lindh keiner zu sein, der sich gern beschwert. Der mehr ein halbvolles als ein halbleeres Glas betrachtet.
Helge Lindh sitzt seit 2017 im Bundestag. Er ist Mitglied im Ausschuss für Inneres und Heimat und im Ausschuss für Kultur und Medien, sowie stellvertretendes Mitglied im Familienausschuss.
Lindh hat in seinem Wahlkreis selbst einen Bürgerrat initiiert
Also, was hatte er im Bundestag über Bürgerräte gesagt? Er nimmt die Brille ab, reibt sich kurz die Augen. "Bürgerräte stellen nicht die repräsentative Demokratie in Frage, sondern beginnen ein Wechselspiel, eine gegenseitige Stärkung", sagt der SPD-Politiker aus Wuppertal. Die Ampel-Koalition hatte mit den Linken einen Antrag vorgelegt, um einen ersten Bürgerrat einzusetzen: "Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben" heißt dieser und wurde mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen sowie der Linken beschlossen. "Das sind keine Versammlungen, bei denen die üblichen Verdächtigen auftauchen", wirbt Lindh, "sondern sie tragen die Chance in sich, bei Wahlen und politischen Prozessen sonst unterrepräsentierte Leute einzubinden" - per Losverfahren und Nachgewichtung. Eine Auswahl nach Gesinnung dürfe es nicht geben, sagt er.
In Wuppertal hat er selbst einmal einen Bürgerrat initiiert. "Da kommen dann Fragen auf, an die ich nie gedacht hätte. Das ist eine Art Schule des Gemeinwohls und wirkt entpolarisierend."
Sowieso hat man den Eindruck, dass Lindh ein ziemlich öffentlich lebender Mensch ist. Seine Handynummer findet man auf der Website, er plakatierte sie sogar großflächig in seinem Wahlkreis - wie es so ist, wenn man ihn 2017 und 2021 gewonnen hat, oder nicht? Nein, Lindh ist eine Ausnahme. "Früher standen die Abgeordneten im Telefonbuch", sagt er. "Die Wähler sollen schon die Möglichkeit haben, sich zu melden." Die Folge ist ein eingeschränktes Privatleben. "Die rufen ja durchaus an und schreiben, zu verschiedensten Zeiten, und können auch schon mal ungeduldig werden." Aber diesen Preis zahle er gern. Überhaupt beschreibt er seinen Beruf wie ein Geschenk. In sehr vielen Vereinen und Organisationen ist er Mitglied. Das ist seinen Kollegen nicht unähnlich, nur erscheint die Auflistung wenig strategisch, mehr wie ein Sammelsurium. "Ich bin neugierig und möchte gern vieles kennenlernen. Das ist ja das Privileg unseres Mandates als Abgeordnete."
Stolz auf seine Heimatstadt Wuppertal
Wenn er über seinen Heimatort spricht, gerät Lindh ins Schwärmen, und nur einen kurzen Moment fragt man sich, ob es übertrieben ist. "Ich bin ja gegen Nationalismus", sagt er, "aber wäre Wuppertal ein Nationalstaat, wäre ich glühender Nationalist". Eine Stadt, die spätestens auf den zweiten oder dritten Blick ihre Schönheiten offenbare. "Wuppertal ist sehr divers und fliegt nie auseinander. Das Stadtleben überzeugt auch rational."
Lindh wurde als Sohn eines Finnen und einer Deutschen geboren, studierte Geschichte, Germanistische Sprachwissenschaft und Soziologie, trat mit 23 Jahren der SPD bei, engagierte sich bei den Jusos. Klassisch kommunalpolitische Ämter gab es keine, stattdessen war er gewählter Vorsitzender des Integrationsrates, "dafür brannte ich", sagt er. Der Sprung in den Bundestag kam überraschend, aber er überzeugte die Delegierten und Wähler mit Abstand - bei jeweils mehreren Wettbewerbern. "Ich hatte keinen Masterplan, es waren auch glückliche Umstände", sagt er. "Zur richtigen Zeit am richtigen Ort." Lindh ist einer, der etwas laut spricht. Mit den Händen gestikuliert. Sich unterbrechen lässt. Und auf seine Art entwaffnend ehrlich wirkt. Interessiert an der Sache und am Zusammenbringen. Und die Zukunft? "Erzwingen möchte ich nichts, und mich anpassen um jeden Preis umso weniger. Sonst würde ich mich nicht mehr selbst erkennen."