Energieversorgung sichern : "Wir haben eine Gaskrise"
Wirtschaftsminister Habeck ruft die Alarmstufe aus: Die Bundesregierung will Kohlekraftwerke wieder ans Netz holen, um weniger Gas zur Stromproduktion zu nutzen.
Alarmstufe Gas, längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke, Milliarden für Gasversorger - Robert Habeck (Grüne) macht ernst. Denn die Lage ist ernst. "Grund zur Beunruhigung ist durchaus gegeben", sagte der Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister am Mittwoch, als er die Abgeordneten im Ausschuss über den Stand der Dinge in Sachen Energieversorgungssicherheit informierte. Und meinte damit vor allem die gedrosselten Gaslieferungen aus Russland über die Nordstream-1-Pipeline.
Um Gas für den Winter einspeichern zu können, soll es weniger zur Stromerzeugung genutzt werden. Das sollen Kohlekraftwerke übernehmen, die nun doch länger am Netz bleiben dürfen.
Bis vor Kurzem sei die Befüllung der Gasspeicher gut gelaufen, täglich habe sich der Füllstand um ein weiteres Prozent erhöht, so dass man jetzt bei einem Füllstand von rund 60 Prozent liege. Vor Winterbeginn sollen es 90 Prozent sein. Was erreichbar gewesen wäre, wenn Russlands Präsident Wladimir Putin den Gasfluss nicht in zwei Schritten auf jetzt nur noch 40 Prozent des vereinbarten Lieferumfangs reduziert hätte.
Russland nutzt Energie erneut als Waffe
Die nicht gelieferten Mengen entsprächen täglich der Flüssiggasladung eines kompletten LNG-Tankers sagte Habeck, der die Drosselung für ein politisches Manöver hält, das einem Muster folge: Russland verknappe Liefermengen, um einspeicherbares Gas zu verringern, die Preise in die Höhe zu treiben und den Druck auf die deutsche Wirtschaft und Bevölkerung zu erhöhen. Im Bundestag nannte Habeck das Vorgehen des russischen Präsidenten einen "Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung", den es "mit allem, was wir haben", zurückzuweisen gelte.
Ostsee-Gaspipeline wird gewartet
Zusätzlich erschwert wird das Erreichen des Ziels einer 90-Prozent-Befüllung der Gasspeicher durch den Umstand, dass durch die Ostsee-Gaspipeline im Juli wegen planungsmäßiger Wartungsarbeiten über mehrere Tage gar kein russisches Gas nach Deutschland fließen wird. Und die Sorge ist groß, dass Russland danach seine Lieferungen nicht wieder aufnimmt. Ein vollständiges Ausbleiben der Lieferungen könnte zu Unternehmenspleiten führen, sagte Habeck.
Die nicht gelieferten Mengen müssten deshalb teilweise anderswo eingespart werden: Teilweise könnten sie ersetzt werden, durch Lieferungen aus Norwegen, den Niederlanden, durch LNG aus EU-Nachbarstaaten, teilweise müsse Gas zugekauft werden - unter anderem mit KfW-Krediten in Milliardenhöhe. Viel Geld wird auch zur Verfügung gestellt, um, wie im Fall von Gazprom Germania, einem Schlüsselunternehmen für die Gasversorgung in Deutschland, das von der Bundesnetzagentur treuhänderisch geführt wird, eine drohende Insolvenz durch Sanktionen von russischer Seite abzuwehren.
Alarmstufe soll Energiekonzerne entlasten
Am Donnerstag ging Habeck den nächsten Schritt und aktivierte die Alarmstufe im Notfallplan Gas, die zweite von drei Eskalationsstufen. "Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschland", sagte der Minister. Zwar seien die Gasspeicher überdurchschnittlich gut gefüllt und auch die Gasversorgung sei momentan noch stabil. Aber: "Die aktuelle Lage darf uns nicht in einer falschen Sicherheit wiegen."
Mit der Alarmstufe könnte das Wirtschaftsministerium die Energiekonzerne entlasten, die momentan zu teuren Weltmarktpreisen Gas zukaufen müssen, das sie wegen langfristigen Verträgen aber preiswert an Kunden in der Wirtschaft und in privaten Haushalten weitergeben. Eine Änderung des Energiesicherungsgesetzes, die im Mai im Bundestag verabschiedet wurde, räumt den Energielieferanten zwar im Fall der Alarmstufe die Möglichkeit ein, die Preise direkt weiterzugeben - an den laufenden Verträgen vorbei. "Das ist aber kein Automatismus, und deswegen werden wir das heute nicht ziehen", sagte Habeck. Aber auch der Minister rechnet mit weiteren Preissteigerungen.
Kohle rein, Gas raus
Die Alarmstufe ist auch eine Voraussetzung für die Pläne der Bundesregierung, Kohle-Kraftwerke wieder ans Netz zu holen, um weniger Gas zur Stromproduktion nutzen zu müssen - und mehr Gas für den Winter einspeichern zu können. Das entsprechende Gesetz "zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor im Fall einer drohenden Gasmangellage durch Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes und weiterer energiewirtschaftlicher Vorschriften" wurde am Freitag in erster Lesung beraten und soll am 8. Juli im Bundesrat beschlossen werden.
Um die Stromversorgung zu stabilisieren, laufen die deutschen Meiler über den Winter weiter. Ob das reicht, bleibt im Bundestag umstritten.
Ralph Lenkert kümmert sich als gelernter Maschinenbautechniker bei der Linksfraktion um Energiethemen. Ukraine-Krieg und Energiekrise haben die Belastung verdoppelt.
Holzpellets, Öl, Flüssiggas - bei den Preisbremsen sind noch Fragen offen.
Die Maßnahmen sollen für einen befristeten Zeitraum gelten und enden spätestens am 31. März 2024. Das Ziel, den Kohleausstieg idealerweise im Jahr 2030 zu vollenden und die Klimaziele zu erreichen, soll davon unberührt bleiben. Darüber hinaus hat Habeck die Idee eines Gas-Auktionsmodells ins Spiel gebracht, das finanzielle Anreize für die Industrie vorsieht, wenn sie Gas spart.
Union warnt vor "Kälte-Winter"
Der Unionsfraktion ist das alles zu spät, zu wenig, zu planlos. Auf Verlangen von CDU/CSU befasste sich der Bundestag am Donnerstag in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema "Kälte-Winter verhindern - Jetzt entschlossen und pragmatisch vorsorgen". Wenn die Regierung, wie in der Vergangenheit behauptet, "auf alles vorbereitet" zu sein, was Putin noch tun könnte - warum wird dann "sozusagen über Nacht" die Alarmlage verkündet, fragte Jens Spahn (CDU). Warum die Entscheidung für die Kohle erst jetzt? Und wenn die Lage so ernst sei, dann sollte man doch alle Optionen in den Blick nehmen - dazu gehörten dann auch die Kernkraftwerke.
Der Klimaschutzminister konterte Spahns Vorhaltungen: "Wir haben uns darauf vorbereitet", sagte Habeck. Die aktuellen Maßnahmen seien "exakt das Ergebnis dieser Vorbereitungen". Habeck sprach vom Vorsorgeparadoxon: Es sei Sommer, alle wollten nach zwei Jahren Corona wieder frei sein - aber politisch stehe der Winter vor der Tür. Jetzt die Alarmstufe auszurufen, sende deshalb ein wichtiges Signal: "Wir haben eine Gaskrise in Deutschland."
Nina Scheer (SPD) erinnerte daran, dass die Ampelkoalition "schon viel auf den Weg gebracht" habe und nannte das Gasspeichergesetz; den LNG-Bereich, das Energiesicherheitsgesetz, das regele, was zu tun sei, wenn eine Gasmangellage eintrete, und die Ersatzkraftwerkebereitstellung. "Wo waren Sie eigentlich, als die kritische Infrastruktur in die Hände von Staaten gelangt ist, die nichts mit unseren Interessen gemein haben?", fragte Michael Kruse (FDP) an Jens Spahn gerichtet. Ein grüner Wirtschaftsminister müsse jetzt erledigen, was die Union in 16 Jahren "nicht auf die Kette gekriegt" habe.
Opposition befürchtet steigende Preise
Der AfD-Politiker Sebastian Münzenmaier sagte, "der drohende Kältewinter" und die "enormen Preisexplosionen sind die Folge Ihrer verfehlten Energiepolitik." Auf die sozialen Folgen der Krise machte Ralph Lenkert (Die Linke) aufmerksam: Energie müsse bezahlbar bleiben - und trotzdem dürfe der Klimaschutz nicht vergessen werden. Die Linke fordere deshalb eine staatliche Preisaufsicht - und den beschleunigten Ausbau der Erneuerbaren.