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Foto: DBT/Marc-Steffen Unger
Ende September 2023 hat der Bürgerrat Ernährung seine Arbeit aufgenommen, fünf Monate später überreichte er sein Bürgergutachten an den Bundestag.

Wissenschaftlerin über den Bürgerrat Ernährung : "Wir hätten einige Maßnahmen sicher zerredet"

Ein Wissenschaftlicher Beirat hat die Empfehlungen des Bürgerrats begleitet. In welchen Punkten sie das größte Potential zur Umsetzung sieht, verrät Melanie Speck.

22.02.2024
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4 Min

Am Dienstagabend hat der Bürgerrat „Ernährung im Wandel“ sein 50-seitiges Bürgergutachten an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und Vertreter der Bundestagsfraktionen überreicht. Die neun Empfehlungen zum Thema „Ernährung im Wandel: zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ der 160 per Los bestimmten Bürgerinnen und Bürger wurden dort erstmals mit Bundestagsabgeordneten debattiert und von Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirates eingeordnet. Die Osnabrücker Sozioökonomin Melanie Speck im Interview mit ihrer Einschätzung.


Der Wissenschaftliche Beirat mit seinen elf Mitgliedern hat die Ergebnisse des Bürgerrats geprüft und aus wissenschaftlicher Perspektive eingeordnet. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Melanie Speck: Die neun Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger sind sehr ernsthaft formuliert und auch im Detail gut ausgearbeitet. Das hat uns begeistert. An vielen Stellen spiegeln die Empfehlungen das wider, was auch wir als Wissenschaftlicher Beirat auf Basis der aktuellen Forschungsstands empfehlen würden. Gleichzeitig sind die Empfehlungen der Bürgerinnen und Bürger etwas pragmatischer: Wir als Wissenschaftler hätten einige Maßnahmen, für die der Bürgerrat am Ende gestimmt hat, sicher zerredet.

Haben Sie ein Beispiel?

Melanie Speck: Die Empfehlung zum beitragsfreien Mittagessen! Auch wenn wohl niemand sagen wird, dass Kinder und Jugendliche nichts zu essen haben sollen, geht die Maßnahme doch mit gewissen Strukturreformen einher. Die Umsetzung liegt vorrangig bei den Bundesländern. Wir als Wissenschaftlicher Beirat hätten die Empfehlung daher vielleicht direkt anders formuliert – unter stärkerer Berücksichtigung der Gegebenheiten. Es war der explizite Wunsch der Bürgerinnen und Bürger an die Regierung, Verantwortung zu übernehmen und zu regulieren, ohne zu überregulieren.

Haben Sie die Empfehlungen überrascht?

Melanie Speck: Die Empfehlungen zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger progressiver sind als gedacht. Viele sind bereit, Veränderungen zu akzeptieren. So fordert der Bürgerrat beispielsweise, dass die Mehrwertsteuer für unverarbeitetes Obst und Gemüse bei null Prozent liegen soll, während Fleisch der Tierhaltungsformen eins und zwei mit 19 Prozent besteuert werden soll. Das zeigt, dass viele Menschen zu Veränderungen bereit sind, solange sie das Gefühl haben, dass die Politik eine Strategie hat, die über die Legislaturperiode hinausgeht.

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Melanie Speck
ist Professorin für Sozioökonomie in Haushalt und Betrieb an der Hochschule Osnabrück und Senior Researcher am Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt und Energie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Nachhaltigkeitsbewertung von Mahlzeiten in Privathaushalten und der Außer-Haus-Verpflegung sowie in der Suffizienz und Umsetzung dieser Strategieebene in privaten und öffentlichen Strukturen.
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Gibt es Punkte in den Empfehlungen, bei denen Sie Verbesserungspotenzial sehen?

Melanie Speck: Wir haben zwei Punkte adressiert, wo wir aus wissenschaftlicher Sicht sagen würden, da muss mehr getan werden. Das ist zum einen die Ernährungsarmut. Denn viele Menschen können sich gesundheitsförderliches Essen nicht immer leisten. Der Bürgerrat fordert zwar das beitragsfreie Mittagessen an Schulen und Kitas und dass in Senioreneinrichtungen besser und gesünder gekocht wird – aber das reicht noch nicht. Mehrere Millionen Privathaushalte werden mit dieser Maßnahme nicht adressiert.

Und der zweite Punkt?

Melanie Speck: Wir hätten uns einen stärkeren Fokus auf die Ökologie gewünscht. Denn wir wissen, dass das Handlungsfeld Ernährung neben der Mobilität und der Energie- und Wärmeversorgung einen enormen Beitrag zu den Emissionen in Deutschland leistet. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten müsste hier noch mehr unternommen werden. So sollte beispielsweise auch eine Klimasteuer auf Lebensmittel intensiver diskutiert werden.

In welcher Empfehlung sehen Sie das größte Potenzial?

Melanie Speck: Ich glaube, dass viele Maßnahmen eine große Wirkung haben können, jede einzelne birgt Potenzial. Systemisch gesehen ist es die Außer-Haus-Verpflegung, denn fast jede und jeder Deutsche ist mehrfach in der Woche mit Gemeinschaftsverpflegung konfrontiert. Seien es die Kinder in Kita und Schule, Erwachsene in der Betriebskantine oder Studierende in der Mensa. Daher sind die Empfehlungen, die die Verbesserung der Qualität fordern, besonders bedeutsam.

Umsetzbar sind meiner Meinung nach alle Empfehlungen, auch wenn einige eine größere Kraftanstrengung benötigen als andere. Beispielsweise kann ein Mindestalter zum Kauf von Energydrinks recht einfach eingeführt werden, während die Einführung eines umgänglichen staatlichen Labels auf Lebensmitteln eher eine größere Herausforderung ist.

Was ist der Wissenschaftliche Beirat?

💡 Der Beirat hat die Sitzungen des Bürgerrates „Ernährung im Wandel“ mit Expertinnen und Experten mit wissenschaftlicher Expertise unterstützt.

🔬 Das Gremium besteht aus elf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern von Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die von den Fraktionen über die Berichterstattergruppe Bürgerrat des Ältestenrates benannt wurden.

📝 Zehn der elf Experten haben eine Stellungnahme zum Bürgergutachten unterzeichnet, das im Februar 2023 an die Bundestagspräsidentin übergeben wurde.



Welche Herausforderungen stehen aus Ihrer Sicht der Umsetzung der Maßnahmen im Weg?

Melanie Speck: Das Ernährungssystem birgt, wie der Name schon sagt, viele systemische Probleme mit sich. Der Einzelhandel hat eine sehr starke Machtposition in der Wertschöpfungskette, Lobbyinteressen spielen eine große Rolle. Wenn wir eine flächige Transformation in der Ernährung wollen, müssen bestimmte Dinge mit Subventionen unterstützt und gefördert werden, um den Markt in Richtung Veränderung anzustoßen.

Ernährung findet zu großen Teilen im Privaten statt. Wie sollte die Politik mit den Empfehlungen umgehen?

Melanie Speck: Wir appellieren in unserer Stellungnahme an die Verantwortung für die Daseinsvorsorge und die gesundheitspräventive Idee, die der Staat in einer Demokratie verfolgen sollte. Wir sehen, dass die Gesundheitskosten in Deutschland momentan fast nicht mehr zu händeln sind. Die Ernährung kann einen großen Teil zur Gesundheitsvorsorge beitragen. So zeigen beispielsweise Studien aus den USA, dass ein Dollar, der in die Schulverpflegung investiert wird, fünf Dollar in der Gesundheitsversorgung einspart.

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