EU-Staatsfinanzen : Geld gibt's genug
Die Haushaltslage vieler Eurostaaten ist überaus angespannt. Anleihenkäufe und Nullzins stützen die Euroländer.
Die Corona-Pandemie hat zwei Entwicklungen verstärkt - den Anstieg der Staatsverschuldung und die staatlichen Steuerungseingriffe in wirtschaftliche Abläufe. Es stellt sich die Frage, wie es mit den hohen Schuldenständen weitergehen kann und ob der eingeschlagene Weg in eine Fiskalunion mit Transfercharakter als EU 2.0 erfolgversprechend ist.
Angespannte Haushaltslage in vielen Eurostaaten
Die Haushaltslage vieler Eurostaaten ist überaus angespannt. Fünf Länder verzeichnen das Doppelte an Staatsschulden, was die EU-Konvergenzkriterien (maximal 60 Prozent der Wirtschaftsleistung BIP) zulassen: (in Prozent mit dem Stand Oktober 2021) Frankreich 117,4; Spanien 119,6; Portugal 127,2; Italien 159,8; Griechenland 208,8. Finanzmarktkrise, Staatsschuldenkrise, Corona-Pandemie, demographischer Wandel - die Staatshaushalte bieten kaum Spielraum, doch soll ambitioniert in Digitalisierung, Umbau der Mobilität und Energieerzeugung sowie Klimaschutz investiert werden. Doch tatsächlich mangelt es den Staaten nicht an Geld - oder besser Kredit.
Denn bislang gehen die Kapitalmärkte (noch) davon aus, dass die Eurostaaten gegenseitig füreinander einspringen werden: über den Rettungsfonds ESM, die gesamtschuldnerische Haftung aller Staaten für EU-Kredite oder die Europäische Zentralbank (EZB) als "Fiskalagent". Die eigentlichen Hürden sind die nationalen und die EU-Schuldenregeln, wenngleich letztere immer wieder missachtet wurden. Aufgrund der Corona-Pandemie gelten derzeit Ausnahmen, die in Deutschland im nächsten Jahr und auf EU-Ebene 2023 enden sollen.
Pandemie hat Tendenz zunehmender Staatseingriffe gefördert
Unerschöpfliche Geldquelle: Der Sitz der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main.
Neben der Verschuldung hat die Corona-Pandemie die Tendenz zunehmender Staatseingriffe gefördert. Durchaus notwendige Hygienemaßnahmen (Lockdown etc.) haben Lieferketten unterbrochen, das Bildungssystem (Homeschooling, digitale Lehre) mit nachhaltigen Folgen beschäftigt und die Sozialausgaben an den Rand des Finanzierbaren gebracht. Ein staatlicher Mindestlohn verteuert unqualifizierte Arbeit, und eine Mietenregulierung wirkt eher kontraproduktiv. Die Klimapolitik ist staatlich regulativ (Bauvorschriften, Kohleausstieg, Gebote/Verbote) und verhindert marktwirtschaftliche Lösungen durch einen einheitlichen CO2-Preis über alle Sektoren. Eine nationale und europäische "Industriestrategie" will heimische Champions fördern, behindert aber technologischen Austausch und eine Innovationsoffenheit für die beste Lösung. Zölle, Exportbeschränkungen und ein politisch geprägter Protektionismus haben die Globalisierung nachhaltig zurückgeführt. Das Ergebnis ist eine "Politisierung der Ökonomie und Ökonomisierung der Politik" (Kamin/Langhammer) mit Wohlfahrtsverlusten, die letztendlich alle treffen.
Während das jährliche Haushaltsdefizit durch Neuverschuldung zu decken ist, würden umgekehrt höhere Steuereinnahmen beziehungsweise geringere Ausgaben zu einem Haushaltsüberschuss führen. Diese Möglichkeit ist angesichts der parteilichen Machtverhältnisse (keine Steuererhöhungen und ausgabenträchtige staatliche Vorhaben) kaum realistisch. Sodann würde ein hohes Wirtschaftswachstum den Schuldenstand/BIP sinken lassen, und ein Primärüberschuss könnte neben den Zins-zahlungen für Tilgungen genutzt werden. Seit 2000 stagniert jedoch die BIP-Wachstumsrate (real) bei etwa 1,3 bis 1,4 Prozent für die Eurozone (19) und 1,5 bis 1,6 Prozent für die gesamte EU (27). Folglich müsste eine höhere Inflation her, die den Schuldenstand real entwertet.
Option direkter oder indirekter Schuldenschnitt
Eine weitere Möglichkeit bietet ein direkter oder indirekter Schuldenschnitt. Beispiel Griechenland: Die beiden Schuldenschnitte hatten gegenüber öffentlichen und privaten Gläubigern (2012), die Schuldenerleichterungen bei gemilderten Konditionen der Rettungsfonds EFSM/ESM (2017) und die der Eurogruppe (2018) einen Umfang von mindestens 246 bis 262 Milliarden Euro. Was für ein sehr kleines Euro-Mitglied möglich ist, dürfte für Frankreich oder Italien ausgeschlossen sein. Zu groß wären die Lasten der anderen Mitgliedstaaten. Auch würde die Kreditwürdigkeit der gesamten Eurozone leiden. Es bleiben trickreiche Umgehungen der gegenwärtigen Schuldenregeln, die weniger die Kapitalmärkte beeindrucken, aber das formale Hindernis de facto außer Kraft setzen.
So hat die EU-Kommission vor kurzem eine Diskussion in Gang gesetzt, an deren Ende eine Reform der Verschuldungsregeln stehen dürfte: Voraussichtlich weniger restriktiv, einfacher zu handhaben und noch flexibler. Ein aktuelles Diskussionspapier des Rettungsfonds ESM will die Schuldenstandsgrenze auf 100 Prozent/BIP strecken. In Deutschland scheint die schärfere nationale Schuldenbremse mit einem strukturellen Defizit von maximal 0,35 Prozent pro Jahr bislang als unantastbar. In diesem Zusammenhang kommt ein Bundesinvestitionsfonds in die Diskussion, der entsprechende "Zukunftsprojekte" kreditfinanziert - ein weiterer parlamentsferner Nebenhaushalt. Wenn dessen Konstruktion ähnlich der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) als Förderbank oder der Bahn als Sondervermögen ausgestaltet wird, müssten seine Schulden nicht angerechnet werden. Abgesehen von dieser legislativ nicht legitimierten Schuldenausweitung ist die Staatsfinanzierung technologischer Neuerungen ordnungspolitisch kritisch zu sehen, denn jede Innovationslenkung ist eine Investitionslenkung mit offenem und durchaus fragwürdigem Ausgang.
EU-Sonderhaushalt ist 750 Milliarden Euro schwer
Als Reaktion auf die Corona-Krise beschloss der Europäischen Rat im Juli 2020 einen Sonderhaushalt "Next Generation EU" (NGEU) in Höhe von 750 Milliarden Euro (in Preisen 2018), der vollständig über EU-Kredite finanziert werden soll. An die Mitgliedstaaten sollen aus diesem "Aufbauinstrument" 360 Milliarden Euro als nationale Kredite und 390 Milliarden Euro als endgültige Zuschüsse vergeben werden. Deutschland ist mit 65,9 Milliarden Euro der größte Nettozahler. Damit einher gehen fünf Strukturbrüche zum bislang geltenden EU-Regelwerk.
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Erstens: Das Kriseninstrument gründet auf der "EU-Katastrophenschutzrechtsklausel" des Artikel 122 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Es umfasst damit alle EU-Mitglieder, nicht nur die der Eurozone wie bei beim Rettungsfonds ESM. Zweitens: Die Hilfen sind nicht an Reformbedingungen gebunden. Auch auf Kontrollen wird weitgehend verzichtet. Drittens: Erstmalig nimmt die EU in erheblichem Umfang (voraussichtlich 823 Milliarden Euro) Kredite auf, die die Mitgliedstaaten durch Garantien absichern (Eurobonds). Viertens: Die Tilgung der Kredite im Zeitraum 2028 bis 2058 ist noch nicht geregelt. Neben zukünftigen - eher unrealistischen - Haushaltskürzungen und Sonderzuführungen der Mitgliedstaaten werden auch EU-Steuern (Recycling-, CO2- und Digitalsteuer) als möglich angesehen. Eigene Steuern setzen jedoch die Ausstattung der EU mit einer eigenständigen Steuerhoheit voraus. Fünftens: Die EU-Kommission verwaltet die Gelder des Krisenmechanismus. Die Balance zwischen den Mitgliedstaaten und der EU wurde damit in Richtung einer Fiskalunion mit Transferaufgaben verschoben.
Veränderte Ausrichtung der Geldpolitik der EZB
Parallel zur 'EU-Fiskalkapazität' hat sich die Ausrichtung der Geldpolitik der EZB gewandelt. Spätestens mit dem Beschluss 2015 zu den erweiterten Anleihekaufprogrammen unterstellen ihr Kritiker eine 'fiskalische Dominanz', die die Geldpolitik in den Dienst der Bedürfnisse hoch verschuldeter Staaten stellt. Die ursprünglichen Rollen wären vertauscht: Die EZB stabilisiert mit Nullzins und Anleihekäufen die Staatsverschuldung, während die Inflation von den Anforderungen der Fiskalpolitik zur Schuldenentwertung bestimmt wird.
Die Integrationsbestrebungen der EU (27) sind an Grenzen gestoßen, wie Flüchtlingspolitik, Brexit sowie Wertediskussion mit Polen und Ungarn zeigen. Die hochverschuldeten Länder könnten mittelfristig den Kreditzugang verlieren, was wiederum die Finanzstabilität der gesamten Eurozone gefährden würde. Will man dauerhafte Unterstützungen durch Gemeinschaftshaftung, Hilfen eines zu einem Europäischen Währungsfonds ausgebauten ESM und Eurobonds vermeiden, so sollte eine Austrittsoption aus dem Euro in die EU-Verträge (EUV) aufgenommen werden, wie sie in Artikel 50 EUV bereits für einen EU-Austritt besteht. Die EU-Rettungsfonds und die besonderen Politiken der EZB wären damit verzichtbar.
Statt im Rahmen einer "immer engeren Union der Völker Europas" als mögliche Sackgasse zu agieren, sollte gemäß den Prinzipien der Subsidiarität (Art. 5 EUV), des Föderalismus und der Freiwilligkeit eine "Verstärkte Zusammenarbeit" (Art. 20 EUV) zwischen einzelnen EU-Staaten zu bestimmten Themen vereinfacht und vermehrt genutzt werden.
Zudem könnte die Konzentration auf die Prinzipien des EU-Binnenmarktes politisch bestimmte Auseinandersetzungen vermeiden helfen. Dies schafft die Voraussetzung für Vertrauen, schafft Flexibilität, vermeidet destruktive Konflikte und ermöglicht langfristig eine entwicklungsoffene Europäische Gemeinschaft.
Der Autor ist Professor Volkswirtschaft an der Helmut-Schmidt Universität Hamburg.