Massentourismus in Deutschland : Idyll in Gefahr
Ob Oberbayern oder Ostsee - in den heimischen Urlaubsregionen werden Besucherströme zunehmend zur Belastungsprobe für Mensch und Natur.
Oft leidet die Natur unter zu viel Tourismus: Am Königssee im Nationalpark Berchtesgaden sperrten Behörden den Königsbach-Wasserfall, damit sich Tiere und Pflanzen erholen können.
Ein Whirlpool, erschaffen von der Natur. Durchspült von glasklarem Wasser, in einzigartiger Lage auf einem Felsüberhang. Im Rücken der Wasserfall des Königsbachs, nach vorne raus der Königssee, der mal türkis-, mal grüngrauschimmernd in der Tiefe liegt. Die einzigen, denen der Zutritt zu diesem faszinierenden Ort derzeit gestattet ist, sind die Ranger des Nationalparks Berchtesgaden. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang patrouillieren sie in diesem Gebiet, weisen Touristen ab, die sich nähern. Seit vergangenem Sommer sind Wasserfall und Gumpe, wie die Einheimischen den Naturpool nennen, Sperrgebiet.
Influencer lösen Ansturm von Selfiejägern aus
Die Vorgeschichte: Spektakuläre Bilder, die Influencerinnen und Influencer in waghalsigen Posen am Rande dieses "Natural Infinity Pools" zeigen, hatten vor allem in den Coronasommern 2020 und 2021 einen regelrechten Hype um Wasserfall und Gumpe ausgelöst - und einen massenhaften Ansturm von Selfiejägern. Nach einem lebensgefährlichen Unfall, zwei Badetoten und angesichts einer durch Trampelpfade und Vermüllung stark lädierte Natur, sahen sich die Behörden zum Handeln gezwungen. "Den Ort zu sperren, passt eigentlich nicht zur Philosophie eines Nationalparks ohne Wegegebot, zum Konzept von Natur, in der sich jeder frei bewegen darf", sagt Nationalparksprecherin Carolin Scheiter. "Aber durch die jüngsten Entwicklungen sahen wir uns dazu gezwungen." Rund 1,6 Millionen naturhungrige Besucher zieht der knapp 21.000 Hektar große Nationalpark rund um Königssee und Watzmann alljährlich an. Das zeigte bereits eine Erhebung der Universität Würzburg aus dem Jahr 2018. In den letzten Jahren habe der Andrang gefühlt noch einmal stark zugenommen, so Carolin Scheiter. Zahlen, die das belegen, gibt es zwar nicht, weil der Park nach allen Seiten offen und jederzeit frei zugänglich sei. Doch ein paar Indikatoren, wie die Aus- und Überlastung von Parkplätzen, sprechen eine deutliche Sprache.
Mehr noch als die schiere Masse der Besucher stellt eine neue Art von Erlebnistourismus die Nationalparkverwaltung vor Herausforderungen. "Es gibt immer mehr Leute, die sich zu jeder Tages- und Nachtzeit auch abseits des Wegenetzes durch den Park bewegen und dabei in sensible Lebensbereiche der Tiere vordringen", so Park-Sprecherin Scheiter. Selbst im Winter kommen die Tiere, deren Lebensraum mit der Gründung des Nationalparks bereits seit 1978 unter Schutz gestellt wurde, nicht zur Ruhe.
Corona hat das Problem verstärkt
Skitourengeher, mit Stirnlampen ausgerüstet, reklamieren das besondere Erlebnis in "unberührter" Natur für sich. Corona-Einschränkungen und das Bedürfnis, Abenteuerlust angesichts unerreichbarer Fernziele in der heimischen Natur zu befriedigen, haben den Trend noch verstärkt.
Das Gebot der Stunde heißt nun Besucherlenkung: Mit neuen Angeboten versuchen die Nationalpark-Verantwortlichen den Erlebnishunger der Touristen mit den Bedürfnissen der Natur in Einklang zu bringen. Das ganze Jahr hindurch gibt es geführte Wanderungen und Bildungsangebote. Mehr Ranger und mehr Infomaterial sollen Touristen für einen nachhaltigen Umgang mit dem alpinen Biosphärenreservat sensibilisieren. Das allein genüge aber nicht, betont Scheiter. Nationalparkmitarbeiter seien auch auf anderen Kanälen aktiv. "Heute lassen sich die Leute nicht einfach mittels ausgelegter Wanderkarten lenken. Viele schauen sich auf digitalen Tourenportalen um, die zum Verlassen ausgeschilderter Wege animieren. Über Gefahren und Folgen dieses ungebremsten Abenteuertourismus müssen wir genau auf diesen Portalen informieren."
Blechschlange schiebt sich durch Bauerndorf
Aus einer anderen Perspektive erleben die Bewohner etlicher oberbayerischer Gemeinden die ständig steigende Lust der Städter an mehr oder weniger aktiver Auszeit in alpiner Natur. Wallgau, eine 1.500-Einwohner-Gemeinde ein paar Kilometer östlich von Garmisch-Partenkirchen, machte im Sommer 2020 mit einer Blockade der mitten durch den Ort führenden B11 von sich reden. Stoßstange an Stoßstange schob sich die Blechschlange des Wochenendausflugsverkehrs über Stunden durch das Dorf, das sich seinen bäuerlichen Charme bislang bewahren konnte. "Von einer Straßenseite auf die andere zu kommen, war fast nicht möglich", sagt Bürgermeister Bastian Eiter.
Seit einigen Wochen sorgt der neu eröffnete Straßentunnel Oberau für Entlastung. "Der Tunnel hat viel für die Entzerrung der Verkehrssituation in unserem Landkreis gebracht", betont Eiter. Allerdings sei das wohl nur eine kleine Verschnaufpause für Wallgau. "Das Stadtgebiet München wächst pro Jahr um 40.000 Einwohner. Es ist abzusehen, was da auf uns zurollt, vor allem an Schönwetterwochenenden, wenn alle in die Berge wollen."
Fahrverbote und eine Verknappung der Parkplätze an den beliebtesten oberbayerischen Ausflugszielen wären kontraproduktiv, ist Eiter überzeugt. Den ÖPNV auszubauen und preislich unschlagbar attraktiv zu machen, sei der einzig richtige Weg. "Beispielsweise indem die Reichweite des für das Münchener Stadtgebiet geplanten 365-Euro-Jahres-Ticket auf den gesamten Ballungsraum ausgeweitet wird."
Die neue Lust auf "Natur pur" schlägt sich indes nicht nur am bilderbuchschönen Südrand der Republik nieder. "Immer öfter treffen unsere Ranger wilde Camper an", sagt Carola Schmidt vom Harzer Tourismusverband. "Der Wunsch nach einem individualistischen Naturerlebnis ist verständlich, aber in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland nur bedingt umsetzbar." Das größte Problem seien Lagerfeuer und damit einhergehend Waldbrände in dem seit Jahren unter Dürre leidenden Harz. Abgesehen vom ungezügelten Camp-Tourismus abseits der Wertschöpfungskette freut man sich beim Tourismusverband in Goslar jedoch über das auch schon vor Corona gestiegene Interesse am Harz. Rund 40 Millionen Übernachtungen pro Jahr verzeichnet die Statistik. "Overtourism" erlebe das Mittelgebirge nur an wenigen Tagen im Jahr und auch nur punktuell, sagt Schmidt. "An schneereichen Wochenenden im Februar, wenn die Massen zum Rodeln zum Torfhaus strömen, ist die Infrastruktur überlastet, die Parkplatzsituation mehr als angespannt." Gleichzeitig gebe es an solchen Tagen andernorts im Harz oft noch Kapazitäten und ebenfalls gute Schneebedingungen. "Die Touristenströme besser zu lenken - daran arbeiten wir noch."
Volle Strände, verstopfte Straßen - auf der zweitgrößten Ostseeinsel Usedom sprengt der Sommer-Tourismus die Kapazitätsgrenzen. Allerdings nur in den berühmten Seebädern. "Um das Interesse der Urlauber auf weniger bekannte Orte der Insel zu lenken, haben wir die Social-Media-Kampagne #Usedomneuentdecken initiiert", so Karina Schulz von der Usedom Tourismus GmbH. Usedomfans und touristische Partner waren aufgerufen, unter dem Hashtag ihre Lieblingsplätze auf der Insel zu teilen.
Dass Tourismusverbände auf Social-Media-Kanälen verantwortungsvoll mitspielen, sei eine wichtige Stellschraube bei der umweltverträglichen Regulierung des Tourismus, sagt Martina von Münchhausen von der Umweltorganisation WWF. Es gelte, mit vielfältigen Angeboten den bei vielen verpönten "geführten Tourismus" attraktiv zu machen. Gut gemachte Apps könnten dabei einen wichtigen Beitrag leisten. "Damit können die Leute individuell und abseits ausgetrampelter Pfade unterwegs sein. Aber so, dass sie weder sich selbst noch besonders sensible Natur gefährden."
Die Autorin ist freie Reisejournalistin