Urlaub voller Widersprüche : Sorglos am Strand?
In diesem Jahr verbringen viele ihren Urlaub wohl in einem Zustand zwischen Entspannung und Inflation, Fernweh und Klimawandel.
Was hätten das für schöne Wochen sein können: Entspannt am Strand in der Sonne liegen mit einem Cocktail in der Hand, aufregende Städte erkunden, in den Bergen den Abstand zur Zivilisation suchen oder in einem Hostel einen Urlaubsflirt wagen - und natürlich Hunderte Fotos schießen. Nach mehr als zwei Jahren Pandemie, Kontaktbeschränkungen, Einreisesperren, Hochrisikogebieten und menschenleeren Touristenhochburgen hätte das der Sommer der Normalität werden sollen, endlich wieder Urlaub ohne Sorgen, Impfnachweis und Schnelltests.
Extreme Hitze, Dürre, Waldbrände: An beliebten Urlaubsorten wie dem Bassin d'Arcachon im Südwesten Frankreichs werden Urlauberinnen und Urlauber aktuell mit den Folgen des Klimawandels konfrontiert.
Aber so ist es gerade nicht. Zumindest nicht ganz so. Da ist zunächst die Pandemie selbst. Die ist nämlich gar nicht vorbei. Eine Sommerwelle rollt durch Europa. Zwar sind die meisten Verläufe, gerade bei Geimpften, vergleichsweise mild, doch für Risikogruppen kann Corona immer noch zu einem im schlimmsten Fall lebensbedrohlichen Urlaubmitbringsel werden. Und nicht zu vergessen: Urlauber, namentlich die Après-Ski-Fans in Ischgl, spielten eine nicht ganz unbedeutende Rolle bei der Verbreitung des Virus vor inzwischen mehr als zwei Jahren.
Chaostage am Airport
Doch es sind nicht nur das Infektionsgeschehen und die ohnehin angespannte Weltlage. An den Flughäfen herrscht - auch als Folge der Pandemie - Chaos. Menschen stauen sich an den Sicherheitskontrollen, nicht oder zu spät abgefertigtes Gepäck türmt sich in den Hallen der Airports. Es fehlt das Personal am Boden und in der Luft. Als Folge streichen europäische Airlines ihre Flugpläne zusammen. Manch ein Urlaub endet bereits am Gate.
Das Reisen mit der Bahn hat bekanntlich auch seine Tücken. Und mit dem sehr nachgefragtem Neun-Euro-Ticket füllen sich gerade die beliebten Regionalbahnen, etwa aus Berlin gen Ostsee, noch stärker als ohnehin. Für Familien mit Kinderwagen wird das zur Tortur, wer einen Rad-Urlaub in der Region plant, muss schlimmstenfalls draußen bleiben.
Die Frage ist, wer es sich noch leisten kann
Mit dem Auto zu verreisen hat neben den klassischen Stauproblemen aktuell ein dickes Preisschild. Das gilt ohnehin für eigentlich alles. Die explodierten Preise für Mietwagen in beliebten Urlaubsregionen sind inzwischen ein Dauer-Gesprächsthema an den Kantinentischen der Republik. Für andere steht angesichts der Rekordinflation überhaupt in Frage, ob sie sich in diesem Jahr einen Urlaub leisten können.
Doch trotz Virus, trotz Chaos am Flughafen, trotz Inflation - die Deutschen wollen wieder Reisen, die von der Pandemie arg gebeutelte Tourismus-Branche meldet Buchungszahlen auf Vor-Corona-Niveau. Man will raus, man will in den Urlaub.
Sehnsucht nach Abwechslung vom Alltag
Das hat einen sehr einfachen Grund: Urlaub gilt vielen als die schönste Zeit des Jahres. Urlaub ist Sehnsucht nach Abwechslung vom Alltag, nach einer, wenn auch begrenzten, selbstbestimmten Zeit. Für die einen ist es das Versprechen auf Abenteuer, auf etwas Neues. Andere wollen den Exzess und die Entgrenzung. Manche wollen einfach nur ihre Ruhe, einige von allem etwas.
Urlaub ist aber noch viel mehr. Wenn man es gesellschafts- bis kapitalismuskritisch sehen möchte, ist Urlaub beispielsweise einer der - zugegeben angenehmsten - Tricks des Kapitals den Arbeiterinnen und Arbeitern einen Sinn ihrer Arbeit vorzugaukeln. Wer sich schon vom Produkt entfremdet hat, kann sich zumindest auf zwei Wochen Strand freuen. Und wer sich gut erholt, der kann dann auch wieder ranklotzen. Die Details regelt das Bundesurlaubsgesetz.
Im Volkswagen zum Teutonengrill
Urlaub ist aber auch Ausdruck einer wohlhabenden Gesellschaft. Kaum hatten die Nachkriegswestdeutschen das Wirtschaftswunder entfacht, sprangen die Kleinfamilien in ihre Volkswagen, fuhren über die Alpen und sonnten sich im Teutonengrill von Rimini. Der langjährige "Reiseweltmeister" Deutschland ward geboren - nach 1990 auch mit Verstärkung aus dem Osten.
Urlaub ist Business und ein Markt. Das Angebot ist breit: Vom Billigflug zum Billighotel am Billigstrand hin zum Luxustrip mit Luxusyacht und Luxusmenschen, von der Studienreise bis zum Seniorenangebot, Single-Reisen und Familienhotels, Aktiv-Urlaub auf Teneriffa oder Brust-Vergrößerung samt Stadtrundfahrt in Prag - jedes vermeintliche Bedürfnis wird von der Tourismusindustrie befriedigt oder im Zweifel geschaffen.
Kulturell und soziologisch gewendet ist Urlaub eine Status- und Distinktionsmaschine. Der Chianti schlürfende Kulturtourist in der Toskana will natürlich mit jenen, die ihren Wein zu schlechter Musik lieber mit Fruchtbeilage als Sangria aus Eimern trinken, nichts zu tun haben. Die Backpackerin wandert ganz individuell mit Rucksack auf Pfaden durch Vietnam, die allerdings auch schon ganz andere Individualisten durchschritten haben. Und wenn es schief läuft, endet man als ein wohlstandsverwahrloster Dirk, von dem der Liedermacher und Kabarettist Rainald Grebe einst sang, dass er ein buntes Hemd trägt und Sätze sagt wie: "Asien ist nicht mehr mein Fall. Asien - ist total überlaufen."
Mehr als hübsche Bilder
Eines ist Urlaub, gerade außerhalb der eigenen Gefilde, indes leider nicht - unschuldig. So kann man sich natürlich fragen, ob es politisch sonderlich korrekt ist, an den Stränden von Ländern zu liegen, in den Autokraten sich fröhlich über die Devisen der Touristinnen und Touristen freuen. Auch über die Arbeitsbedingungen könnte man die eine oder andere Sekunde nachdenken: Ob die Menschen, die in den All-Inklusive-Bettenburgen in fernen Ländern die Tische abräumen, in der Küche schuften, die Betten reinigen oder in den Maschinenräumen der Kreuzfahrtschiffe malochen, halbwegs ordentlich bezahlt werden, Urlaubsanspruch haben oder selbst jemals im Urlaub waren? Wir wissen es natürlich nicht. Wollen wir es denn überhaupt wissen?
Und dann wäre da noch das Thema Nachhaltigkeit und Klimawandel. In den Urlaub zu fliegen, das ist in manchen Familien mit von Greta und Co. politisierten "Fridays For Future"-Kindern inzwischen ein veritabler Streitgegenstand. Der flugbasierte Massentourismus insbesondere der westlichen Welt trägt seinen Teil zum Klimawandel bei, so dass Urlaubsparadiese wie die Malediven in ihrer Existenz bedroht sind. Dass die aktuellen Dürre- und Hitzewellen insbesondere in Italien, Spanien und Frankreich - und ihre Ausläufer in Deutschland - eben nicht nur schönes Badewetter bedeuten, sondern Teil eines größeren Problems sind, hat sich inzwischen auch weitestgehend rumgesprochen - und davon zeugen auch die Bilder der Waldbrände in ganz Europa.
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Also bleibt nur noch - wie ebenfalls von Rainald Grebe besungen - "Urlaub in Deutschland, Urlaub in der Region"? Das ist - bei aller Wertschätzung das versammelte Tourismusmarketing des Landes - auch keine Lösung. Das Fernweh vieler reicht vermutlich weiter als die schönsten deutschen Mittelgebirge oder das Wattenmeer. Verzicht auf Urlaub ist leicht zu predigen, aber lebensfern. So bleibt wohl nur, Widersprüche auszuhalten, auf den technischen Fortschritt zu hoffen und sich die ein oder andere kritische Frage hinsichtlich des ökologischen oder sozialen Kontextes der eigenen Reiseplanung zu stellen.
Zumal: Urlaub - verstanden als Reisen - ist auch deshalb so faszinierend, weil der Ausbruch aus dem Alltag auch den eigenen Horizont erweitern kann. Es muss nicht gleich eine Studienreise sein und natürlich geht es - siehe Ballermann - vermutlich auch komplett ohne jedweden ernstzunehmenden Erkenntnisgewinn. Aber beim Aufenthalt in der Fremde, beim Erkunden des Neuen bleibt doch meistens etwas hängen, was mehr ist als das schönste Urlaubsfoto - und für den Geist noch erfrischender als der gelungenste Cocktail.