Stille Krise : Endstation Artensterben
Das sechste Massenaussterben hat bereits begonnen – bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten verschwinden jeden Tag. Was das Artensterben für Mensch und Umwelt bedeutet.
Würden Löwe Alois, Elefant Oskar und Giraffe Leopold heute zur "Konferenz der Tiere" laden, viele Plätze blieben frei. Wo sich in Erich Kästners Kinderbuch Säugetiere, Vögel, Insekten und Fische tummelten, um die Menschheit zur Vernunft zu bringen, würde heute gähnende Leere herrschen.
Denn die Welt wird immer ärmer. Nicht an Menschen, begrüßten wir erst vor wenigen Wochen den achtmilliardsten Menschen auf diesem Planeten, sondern an Tieren und Pflanzen. Rund eine Million der acht Millionen bekannten Arten gilt als bedroht. Bis zu 150 von ihnen sterben Schätzungen zufolge jeden Tag aus - viele davon, bevor der Mensch sie überhaupt entdeckt hat.
Dass Arten verschwinden, gehört zur Evolution dazu. Allerdings geschieht dies aktuell mit einer Geschwindigkeit, die Forschende dazu veranlasst, vom sechsten Massenaussterben zu sprechen. Ein Massenaussterben, das nicht etwa durch eine Naturkatastrophe ausgelöst wurde, wie es vor circa 77 Millionen Jahren der Fall war, als ein Meteoriteneinschlag die Dinosaurier auslöschte. Auslöser dieses Mal ist der Mensch.
Das Problem: Der Mensch
Innerhalb eines erdzeitgeschichtlichen Wimpernschlags ist der Mensch sesshaft geworden, hat die Landschaft industrialisiert und alles Existierende kapitalisiert. Was keinen Gewinn abwirft, ist dabei wenig wert. Unberührte Urwälder müssen Sojafeldern oder Palmölplantagen weichen, heimische Tier- und Pflanzenarten werden verdrängt und vernichtet. Durch den industriellen Fischfang könnte bald mehr Plastik als Meeresbewohner in den Ozeanen schwimmen. Nicht nur Fischarten wie Lachs, Thunfisch oder Rotbarsch leiden darunter. Dass sich etwa Delfine in Stellnetzen verfangen und ersticken, wird als Kollateralschaden abgetan. Andere Arten fallen Aberglaube und Wilderei zum Opfer. Wirkungslose Potenzmittel aus Tigerknochen oder Nashornpulver erzielen hohe Preise auf Schwarzmärkten.
Die aus all dem resultierende Artenarmut zeigt sich schon heute ganz plastisch - auch in Deutschland. Nach längeren Autofahrten über Landen kleben beispielsweise kaum mehr Insekten an der Frontscheibe. Vogelgezwitscher ist in Großstädten immer seltener zu hören.
Welche Auswirkungen wird dieser Biodiversitätsschwund haben? Verheerende, sagen Forscher. Wenn das Massenaussterben nicht eingedämmt wird, wird das unser Leben auf der Erde tiefgreifend verändern.
Die Folgen des Artensterbens
Um den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Zukunft zu sichern, zwingen die Tiere in Kästners Roman die Menschheit zu einer friedlichen Weltordnung. Sie verstecken dafür alle Kinder und führen den Erwachsenen dadurch vor Augen, was sie zu verlieren haben. Wäre es bei der Konferenz der Tiere um Artenschutz gegangen, hätten sie sich einfach selbst verstecken müssen, um die Folgen einer artenarmen Welt aufzuzeigen.
Schon nach kurzer Zeit würden Hungersnöte ausbrechen. Besonders die Futter- und Nahrungsmittelindustrie, die vehement mit Pestiziden gegen Insekten vorgeht und als einer der Hauptfaktoren für das Artensterben gilt, könnte ohne die kleinen Helfer nichts erwirtschaften. Ohne Bestäuber wie Bienen gäbe es kein Obst, kein Gemüse. Aber auch Produkte wie Kaffee oder Gummibärchen wären betroffen. Natürlich könnte der Mensch versuchen, die Insekten durch Drohnen oder menschliche Bestäuber zu ersetzen, doch die Leistungsfähigkeit einer Biene können sie nicht erreichen.
Keine Lobby für Insekten
Dass Biodiversität wichtig ist, hat die Politik vor Jahren erkannt; schon seit 1993 gibt es die Biodiversitätskonvention. Mit den "Aichi-Zielen" wollte die Weltgemeinschaft bis 2020 die Ursachen des Artensterbens bekämpfen - keines der Ziele wurde jedoch erreicht. Während Krisen wie der Klimawandel oder die Coronapandemie sichtbare Effekte haben, zeichnet sich das Artensterben besonders dadurch aus, dass es größtenteils stumm vor sich geht. Nur bei bekannteren Arten geht ein Aufschrei durch die Gesellschaft, wenn diese durch Wilderei oder Lebensraumverdrängung der Ausrottung wieder einen Schritt näher kommen. Im Gegensatz zu Tiger, Pandabär oder Elefant haben Amphibien- und Insektenarten oftmals keine Lobby, obwohl sie wichtige Aufgaben erfüllen und ebenfalls stark gefährdet sind. Auch bei Kästner fällt keinem der Konferenzteilnehmer auf, dass es der Regenwurm nicht rechtzeitig zur Zusammenkunft geschafft hat.
Dennoch: Es gibt Erfolgsgeschichten, die Hoffnung machen: In den Alpen konnte der Bartgeier wieder in seinem natürlichen Habitat angesiedelt werden und in Deutschland fühlt sich der Wolf wieder heimisch. Die EU-Mitgliedstaaten haben zudem beschlossen, die Einfuhr von Produkten aus Abholzregionen zu verbieten. Vor Weihnachten ist es den rund 200 Teilnehmertaaten des Weltnaturgipfels gelungen, ein neues Abkommen zu schmieden. 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen weltweit sollen bis 2030 unter Schutz zu stehen. Ein ambitioniertes Ziel, dass die Staatengemeinschaft erreichen muss. Der Wettlauf gegen die Zeit hat längst begonnen. Und im Gegensatz zu der fiktiven Welt in Kästners Kinderbuch kann die Menschheit bei der Bewältigung dieser Krise nicht auf die Rettung durch die Tiere hoffen.