Autogerechte Stadt : Als Hannover zum Vorbild wurde
Wie ein Stadtplaner das Modell einer „autogerechten Stadt“ in Hannover durchsetzte und es Vorbild für viele andere Städte wurde.
Es ist ein kalter Wintertag, als sich am 20. Dezember 1963 eine große Gruppe Menschen an einem Teilstück der Autobahn 100 in Berlin versammelt. Trotzdem ist die Menge in bester Stimmung, lacht, winkt und klatscht, als der damalige Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm (CDU) zusammen mit dem Regierenden Bürgermeister Berlins, Willy Brandt (SPD), die Straße für den Verkehr freigibt. Solche Bilder hat es Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in vielen Großstädten der Bundesrepublik Deutschland gegeben, und die meisten davon haben es als Erfolgsgeschichten in die Nachrichten geschafft.
Mit Neugier und Begeisterung verfolgen Passanten im Dezember 1963 die Einweihung eines neuen Straßenabschnittes der Berliner Stadtautobahn.
Städte wie Berlin, Hamburg oder Dortmund wurden nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 nicht einfach nur wieder aufgebaut, sondern mit dem Leitbild der "autogerechten Stadt" versehen, oftmals komplett neugestaltet. Stadtplaner und Verkehrspolitiker hatten die Idee bereits in den 1920er Jahren diskutiert. In Berlin hat es beispielsweise 1926 bereits einen Streit zwischen zwei später berühmt gewordenen Persönlichkeiten gegeben, die konkurrierende Visionen urbaner Mobilitätspolitik vertraten. Auf der einen Seite stand Martin Wagner, Städtebauer und Stadtrat für Hochbau und Stadtplanung, der Verfechter einer am Auto orientierten Stadt, auf der anderen Seite der spätere Bürgermeister Ernst Reuter (SPD), der eher für den Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) plädierte.
Pläne seit den 1920er diskutiert
Obwohl es zu der damaligen Zeit mit knapp 500.000 registrierten Kraftfahrzeugen deutschlandweit nur sehr wenige Autos gab, plante Wagner bereits einen Straßenausbau zugunsten des Autos. So sollten in Berlin ab den 1930er Jahren Autobahnen, Hochstraßen und Auffahrten entstehen, insgesamt 47 Kilometer Straße sollten neu gebaut werden. Die Nationalsozialisten förderten den Aufbau der automobilen Infrastruktur mit zahlreichen Projekten. Diese Pläne wurden durch den Zweiten Weltkrieg zwar verzögert, aber nach 1945 weiterverfolgt - wenn auch in veränderter Form.
Es war die weltpolitische Realität des Kalten Krieges, die ein städtebauliches Gesamtkonzept für Deutschland nach 1945 verhinderte. Einzig die Tatsache, dass die Kriegstrümmer beseitigt und Häuser wie Straßen repariert oder neugebaut werden mussten, war in West- und in Ostdeutschland gleich.
Auf welche Weise das geschah, war stark von den lokalen Akteuren geprägt. "In Abhängigkeit von der Persönlichkeit des jeweiligen Stadtbaudirektors und den Diskussionen in den Stadtgesellschaften kam es entweder zu stärker rekonstruktionsorientierten oder konsequent Moderne-affinen Planungen, die die Gunst der Stunde nutzten, um dem Autoverkehr Breschen zu schlagen", stellt Christoph Bernhardt, Stadt- und Umwelthistoriker und außerplanmäßiger Professor an der Humboldt-Universität Berlin, fest.
Neben mehrspurigen Straßenbändern und großen Untertunnelungen gelten auch Hochstraßen wie diese über dem Aegidientorplatz in Hannover als Elemente eines auto-orientierten Stadtumbaus.
Einer der seinerzeit bekannten Persönlichkeiten war Rudolf Hillebrecht, ab 1948 Stadtbaurat in Hannover. Die Innenstadt dort war vom Krieg komplett zerstört. Der Architekt und Verwaltungsfachmann verfolgte den Plan einer Stadt mit einem Netz von Schnellstraßen, Tangenten und Hochstraßen, womit der Stadtkern vom Autoverkehr freigehalten und gleichzeitig die Zufahrt zu allen Zentrumsbereichen erleichtert werden sollte. Innerhalb von nur zehn Jahren wurde Hannover bis 1959 zur ersten "autogerechten Stadt" der Bundesrepublik Deutschland und für viele Stadtplaner im In- und Ausland zum Vorbild.
"Ausschlaggebend war für uns die psychologische Situation in der Zeit kurz nach der Währungsreform", zitiert der "Spiegel" in seiner Ausgabe vom 2. Juni 1959 den bekannten Stadtplaner. "Damals, als noch überall Trümmer lagen, waren die Leute opferbereit, weil sie empfanden, dass irgend etwas geschehen müsse, um den Wiederaufbau in Gang zu bringen".
Hillebrecht habe diese Gefühlslage genutzt, um die Unterstützung von Ratsherren und Bürgern für einen Plan zu mobilisieren, der damals noch fast unbekannt war: der Flächennutzungsplan. "Ein solcher Plan ist gewissermaßen die kartographische Marschorder für die organische Neuordnung einer Stadt; er weist aus, wie sich die Stadtplaner die (Neu-)Aufgliederung von Wohn-, Industrie-, Geschäfts- und Erholungsbezirken vorstellen und wie dementsprechend die Verkehrsströme neu gebettet werden müssen", schreibt der "Spiegel" fast überschwänglich.
Das Geschick von Stadtplaner Hillebrecht
Zusammen mit dem Plan und seinem offenbar großen Geschick, Politiker, Bürger und Grundstücksbesitzer überzeugen zu können, gelang es Hillebrecht, den Grundriss der Stadt entscheidend zu verändern. Hannovers Straßensystem sollte nicht länger die Form eines Sterns haben; der neue Grundriss konnte eher mit einem Rad verglichen werden. Als "Radnabe" umschließt ein Innenstadtring die City. Den "Radkranz" bilden die Tangenten, die den Fernverkehr, den Zielverkehr und den Diagonalverkehr von Ortsteil zu Ortsteil aufnehmen, und als "Radspeichen" wirken sogenannten Radialstraßen, die den Innenstadtring mit den Tangenten auf kürzesten Strecken verbinden. Start der Bauarbeiten war im Stadtwald Eilenriede. Die Rodungsarbeiten riefen zwar Proteste der dortigen Anwohner hervor, die ihr Naherholungsgebiet behalten wollten, doch Hillebrecht hatte die einmütige Unterstützung des Stadtparlaments.
Trotz des Vorrangs des ÖPNV in der DDR findet sich der autogerechte Baustil auch im Osten: Straßenbänder am Georgplatz in Dresden nach der Umgestaltung 1970.
Bereits im November 1949 frästen Bulldozer eine breite Schneise durch den Wald, für den ersten Abschnitt der Ost-Tangente. Als nächstes nahmen sich die Bagger und Planierraupen die Innenstadt vor. Sie brachen für den Innenstadtring eine breite Schneise durch Schuttberge und ausgebrannte Fassaden, zertrümmerten aber auch vom Bombenregen verschont gebliebene Wohnblocks ebenso wie provisorisch neuerstandene Geschäftsviertel und bahnten sich an einer Stelle sogar einen Weg über den alten Innenstadt-Friedhof. "So bauten die Hannoveraner unbeirrt von aller Kritik ihre ampellosen, riesigen Umfahrungsplätze, die teilweise 100 Meter lang und 70 Meter breit sind", heißt es in einer NDR-Dokumentation. Zehn Jahre nach Baubeginn war das geplante Straßennetz im Jahr 1959 nahezu vollendet.
Zeitungen schrieben vom "Wunder"
Und die Kritik der damaligen Zeit war begeistert: "Was hier geschehen ist, wirkt wie ein Wunder", schrieb Joachim Besser. Der Chefreporter der Zeitung "Die Welt", hatte eine Tour durch Westdeutschlands Städte gemacht, um herauszufinden, ob und wie die Chancen beim Wiederaufbau genutzt wurden. Auch andere Beobachter gerieten ins Schwärmen: "Hannover - Vorbild für Städtebauer", hieß es in der "Nürnberger Zeitung", als "Stadt des Wunders" betitelte "Il Giornale di Sicilia" Hannover, und in "Momento Sera" aus Rom war gar von "Hannover - Stadt des Jahres 2000" die Rede. Eine Delegation schweizerischer Städtebauer und Architekten, die nach Hannover gefahren war, resümierte: "Hannover zeigt, was erreicht werden kann, wenn eine im rechten Zeitpunkt getroffene Planung konsequent befolgt wird." Damit war Hannover Vorbild für viele Stadtplaner. Vor allem in Bremen, Dortmund, Stuttgart und auch West-Berlin wurden die Ideen von Hillebrecht und seinen Mitarbeitern übernommen.
Die Euphorie für das Auto und für neue Straßen nach dem zweiten Weltkrieg ist nach Einschätzung von Professor Christoph Bernhardt vor allem durch drei Faktoren zu erklären. Erstens galt das Auto seit den 1920er Jahren unter Städteplanern und Verkehrsexperten als "das" Fortbewegungsmittel der Zukunft. Zweitens wurde der Bevölkerung das Auto als Verkehrsmittel schmackhaft gemacht, es wurde erst als Luxusgerät inszeniert und später als "Volkswagen" popularisiert. "Nach 1945 waren die Weichen für eine autogerechte Stadt gestellt", sagt Bernhardt. Drittens schließlich haben insbesondere in den frühen 1950er Jahren auch die Entwicklungen in den USA viele europäische Stadtplaner beeinflusst: Von dem dort praktizierten Modell einer Nation der Autofahrer haben sie sich inspirieren lassen.
Diskussion erreichte auch die DDR
Auch in der DDR hatte das Auto einen hohen Stellenwert. Wie im Westen verkörperte es im Sozialismus individuelle Freiheit und galt als Statussymbol. In den frühen Jahren der DDR haben sich Politiker für die Konzepte des US-Autopioniers Henry Ford begeistert, sowohl was das Produktionskonzept betraf als auch den Bau vom Auto dominierter, neuer Städte. Zwar galten im Ost-Berlin der 1950er Jahre noch die Grundsätze, die eine Suburbanisierung, also die Verlagerung von Wohnraum und Arbeitsplätzen an die Stadtränder und in das Umland, ablehnten und das Fernhalten des Autoverkehrs aus Wohngebieten vorsahen, aber bereits ein Jahrzehnt später wurden sie aufgeweicht.
Nun wurde der Bau von Schnellstraßen in der Hauptstadt der DDR wohlwollend diskutiert. Die Planer vertraten eine Entwicklung, wonach es eine Verflechtung anstatt einer Entflechtung der Stadtfunktionen Wohnen, Gewerbe, Freizeit geben müsse. Trotz des Vorrangs, den der ÖPNV in der DDR hatte, wurden starke Elemente eines Automobil-orientierten Stadtumbaus vollzogen. In Dresden, Berlin und Halle an der Saale finden sich in den Innenstädten mehrspurige Straßenbänder, große Untertunnelungen sowie Hochstraßen.
Neue Mobilitätsmodelle wie das Car-Sharing
Trotz der Proteste, mit denen auf den Neubau von Straßen und Autobahnen seit den 1980er Jahren in West-Deutschland reagiert wird, "übt die selbstbestimmte Mobilität in Form des Autofahrens nach wie vor einen großen Reiz in weiten Teilen der Bevölkerung aus", sagt Christoph Bernhardt. Aktuell seien zwar Car-Sharing-Modelle sehr gefragt und gelten als "smarte Form" des Autofahrens.
Die Bevölkerung bestehe jedoch aus verschiedenen Teilgruppen, die jeweils unterschiedliche Bedarfe hätten. Zudem wachse gerade eine neue Generation heran, für die das Auto teilweise wieder verstärkt ein Statussymbol sei. "Das sind unter anderem junge Männer, die mit großen, hochmotorisierten Autos herumfahren und sich inszenieren", sagt Bernhardt. Seine Prognose für die nächsten Jahre lautet: "Die Autos werden nicht aus der Stadt verschwinden." Eine Tendenz sei jedoch, dass dem Auto strikter als bislang bestimmte Räume zugewiesen würden, um den Autoverkehr zu bündeln und aus manchen städtischen Räumen fernzuhalten. Eine Idee, die bereits die Stadtplaner in den 1920er Jahren verfolgten.