Rheinischer Kapitalismus : Die Erfindung der Sozialen Marktwirtschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg musste für Deutschland ein neues Wirtschaftsmodell her. Ludwig Erhard hatte da schon etwas in der Schublade.
Die marktwirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist keine Selbstverständlichkeit. Denn nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft strebte nicht nur die wiedererstandene SPD ein sozialistisches Wirtschaftssystem an, sondern auch die sich neu formierende CDU.
Bei deren erstem "Reichstreffen" im Dezember 1945 postulierten die Delegierten einstimmig einen "Sozialismus aus christlicher Verantwortung". Nur mit Wirtschaftslenkung meinten sie die Not dieser Tage in den Griff bekommen zu können, und die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien schien geboten angesichts der Rolle, die das Großkapital bei Hitlers Machtergreifung gespielt hatte.
Wirtschaftsminister Prof. Ludwig Erhard (CDU) in seinem Heim am Tegernsee Anfang der 1960er Jahre.
Als Konrad Adenauer nach einigem Zögern bei den Christdemokraten einstieg, bemühte er sich, solche aus seiner Sicht sozialromantischen Vorstellungen in Richtung einer pragmatischeren Wirtschaftspolitik umzulenken. Das wirtschafts- und sozialpolitische Programm, das der Zonenausschuss der CDU in der britischen Zone im Februar 1946 in Ahlen verabschiedete, trägt bereits deutlich seine Handschrift. Es setzt wesentlich stärker auf marktwirtschaftliche Kräfte und weniger auf dirigistische Maßnahmen.
Die Wirtschaftsordnung wurde liberalisiert
Am 1. Januar 1947 schlossen Briten und Amerikaner ihre Zonen zu einem Vereinigten Wirtschaftsgebiet, der "Bizone" zusammen. Sie beriefen einen 52-köpfigen Wirtschaftsrat ein, in dem auf Grundlage der zwischen 1945 und 1947 abgehaltenen Landtagswahlen CDU/CSU und SPD gleich viele Sitze hielten. Zur Empörung der Sozialdemokraten ging die Union eine Koalition mit den Liberalen und dem Zentrum ein, die alle zu besetzenden Direktorenposten unter sich verteilte. In dieser Konstellation wurden die Weichen für eine Liberalisierung der Wirtschaftsordnung gestellt.
Denn das System der Zwangsbewirtschaftung, in dem Bezugsscheine praktisch an die Stelle des Geldes getreten waren, erwies sich als offensichtlich ungeeignet, die dramatische Verschlechterung der Versorgungslage zu stoppen.
Auftritt Ludwig Erhard
Im März 1948, als die Spaltung Deutschlands durch den Auszug des sowjetischen Vertreters aus dem alliierten Kontrollrat offenkundig geworden war, wurde Ludwig Erhard zum Wirtschaftsdirektor der Bizone berufen.
Der in Nürnberg tätige Wirtschaftswissenschaftler hatte schon während des Zweiten Weltkriegs Studien über eine neue Wirtschaftsordnung nach dem Krieg ausgearbeitet, für die Erhards Kollege und späterer Staatssekretär Alfred Müller-Armack den Begriff "Soziale Marktwirtschaft" prägte.
Erhard kam also mit fertigen Plänen in den Wirtschaftsrat und er setzte diese - mit voller Rückendeckung durch die Amerikaner und Briten - in kurzer Zeit um. Schon am 21. Juni erfolgte die Währungsreform, an der sich auch die französische Zone beteiligte. Die alte Reichsmark wurde ersetzt durch die Deutsche Mark. Jede Bürgerin und jeder Bürger erhielt einen Grundstock von 40 DM; ansonsten wurden die vorhandenen Geldbestände, Vermögen und Verbindlichkeiten im Wesentlichen im Verhältnis 1:10 abgewertet.
Soziale Marktwirtschaft
💡 Der Grundgedanke In der Sozialen Marktwirtschaft werden die Kräfte des Gewinnstrebens mobilisiert und für das Gemeinwohl nutzbar gemacht. Dazu korrigiert der Staat gesellschaftlich unerwünschte Auswirkungen eines freien Marktes, etwa durch Wettbewerbsregeln und Sozialgesetze.
🎓 Die beiden Erfinder Die Wirtschaftsprofessoren Alfred Müller-Armack (1901-1978) und Ludwig Erhard (1897-1977) auf Grundlage der Überlegungen von Walter Eucken (1891-1950), dem Begründer der Freiburger Schule des Ordoliberalismus.
⚖ Rechtliche Grundlage Das Grundgesetz macht kaum Vorgaben für das Wirtschaftssystem. Es gewährleistet grundsätzlich Eigentum und Erbrecht, lässt aber die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln gegen Entschädigung zu. Die Soziale Marktwirtschaft entspringt daher nicht in der Verfassung, sondern beruht auf politischen Entscheidungen.
Viele Einwohner der Westzonen sahen sich dabei um einen Großteil ihres sauer Ersparten gebracht - nicht selten zum zweiten Mal nach der Hyperinflation der Zwanziger Jahre. Umgekehrt sah mancher Spekulant seine Schulden auf wunderbare Weise dahinschwinden. Kein Wunder, dass die Sozialdemokraten lautstark gegen die Politik Erhards und der Union im Wirtschaftsrat zu Felde zogen. Aber auch in den eigenen Reihen hatte Erhard zunächst erhebliche Widerstände zu überwinden.
Doch letztlich konnte er auch den Sozialflügel der Union davon überzeugen, dass sein Konzept nichts mit freibeuterischem Kapitalismus zu tun hatte.
Kräfte des Wettbewerbs nutzbar machen
Seine "Soziale Marktwirtschaft" sollte vielmehr die Kräfte von Wettbewerb und Gewinnstreben für die Beseitigung der Not und die Schaffung von Wohlstand nutzbar machen, sie dabei aber unter Kontrolle halten. Die Bildung von Monopolen und Kartellen sollte durch staatliche Aufsicht verhindert werden, und die weniger Leistungsfähigen sollten durch eine gerechte Sozialpolitik geschützt werden. Auf dem zweiten Parteitag der CDU in der britischen Zone im August 1948 erhielt Erhard volle Unterstützung. Nach dem noch knappen Sieg der Union bei der ersten Bundestagswahl 1949 wurde das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Schritt für Schritt weiter umgesetzt.
Entscheidend für den Erfolg war dabei das Ringen und Zusammenwirken von Wirtschafts- und Sozialflügel der Union und ihrer Repräsentanten am Kabinettstisch, Wirtschaftsminister Erhard und Arbeitsminister Anton Storch. Ein typisches Beispiel für diesen Ausgleich zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik ist die Einführung des Time-Lag bei der Rentenreform 1957 mit der Umstellung von Kapitaldeckung auf Umlagefinanzierung. Die Wirtschaftspolitiker in der Koalition hatten die berechtigte Sorge, dass die Dynamisierung der Rente prozyklisch wirken würde: Steigen die Löhne, so steigen die Renten gleichermaßen. Dies erzeugt zusätzliche Nachfrage und birgt die Gefahr, dass die Konjunktur überhitzt und die Inflation steigt.
Von der englischen Labour-Partei abgeschaut
Umgekehrt würde auch eine wirtschaftliche Flaute mit niedrigen Lohnabschlüssen entsprechend verstärkt. Mit dem Time-Lag, der zeitlich verzögerten Rentenanpassung, kann die Dynamisierung stattdessen eine antizyklische, die Konjunkturausschläge dämpfende Wirkung entfalten. Solche Flexibilität im Austarieren von Interessen ist ein Wesenszug der Sozialen Marktwirtschaft. In dem Maße, in dem die Wirtschaft wuchs, stiegen auch die Sozialleistungen oder wurden neue eingeführt, wie das Erziehungsgeld und die Pflegeversicherung. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten hatten die Sozialpolitiker aber auch mal das Nachsehen.
Später gab es auch unter sozialdemokratisch geführten Regierungen keinen Systembruch. Denn mit dem Godesberger Programm von 1959 hatte sich die SPD von der Arbeiterpartei zur Volkspartei gewandelt und mit dessen Leitsatz "Wettbewerb soweit wie möglich - Planung soweit wie nötig" dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft angenähert.
Die rot-grüne Regierung von Gerhard Schröder beschloss dann sogar, angesichts steigender Arbeitslosigkeit und nach dem Vorbild des Labour-Kollegen Tony Blair in London, Erleichterungen für die Privatwirtschaft und verschärfte Bedingungen für Sozialleistungen.
Schließlich reklamierten die Sozialdemokraten sogar den Begriff "Soziale Marktwirtschaft" für ihre eigene Politik, verbunden mit dem Vorwurf an die Merkel-CDU, sich mit einer neoliberalen Politik davon zu verabschieden.
Was die Soziale Marktwirtschaft ausmacht, findet sich ähnlich auch in vielen anderen Ländern. Kaum irgendwo aber wurde es so systematisch implementiert wie in der Bundesrepublik der Adenauerzeit.
Auch an der Spree überlebt
Zu ihren Charakteristika gehört eine gemischte Wirtschaftsstruktur mit vorwiegend privaten, aber auch genossenschaftlichen und staatlichen beziehungsweise kommunalen Unternehmen und mit gesetzlichen Wettbewerbsregeln. Es gehört dazu die innerhalb eines gesetzlichen Rahmens freie Festlegung der Arbeitsbedingungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften sowie die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in großen und mittelgroßen Betrieben. Und es gehören dazu beitragsfinanzierte Sozialversicherungen mit selbstverwalteten Trägern neben staatlichen Sozialleistungen. Gelegentlich wird diese Ordnung leicht spöttisch als "Rheinischer Kapitalismus" bezeichnet. Sie hat bisher aber auch an der Spree überlebt.