Die Zukunft des Wohnens : Wohnen in Genossenschaften
Die Wohnungsfrage ist zurück - und in Zeiten des Klimawandels noch komplizierter zu beantworten.
Wohnen ist ein zunehmend umkämpftes Terrain in der deutschen Gesellschaft: Bezahlbarer Wohn-raum wird immer knapper, Mieten und Grundstückspreise scheinen in den Großstädten ins Uferlose zu wachsen. Auch die Mietpreisbremse und der kurzfristig eingeführte Berliner "Mietendeckel" konnten daran grundsätzlich nichts ändern. Kein Wunder, so lange es die gesetzlichen Regelungen erlauben, Grund und Boden - bar jeder Sozialbindung - als Spekulationsmasse zu behandeln. Denn mit kalkulierter Wohnungsnot lassen sich prächtige Gewinne erzielen. Doch während börsennotier-te, globale Immobilienfonds den Markt erobern und die Bodenpreise explodieren lassen, weiten sich die Stadtviertel aus, die für Normalverdiener zeitlebens unerreichbar bleiben werden.
Antwort auf hohe Mieten 2019: Mit der Wohnungsgenossenschaft LaBorda in Barcelona gelang es den Architekten, nachhaltigen Wohnraum zu moderaten Preisen zu schaffen.
Wie dieser Wohnmisere entgehen? Vor mehr als 100 Jahren ähnelte die Lage in Deutschland der heutigen: Nach dem Ersten Weltkrieg herrschte Wohnungsnot. Die Schaffung von preiswerten und zugleich gut gestalteten Wohnräumen wurde eines der Kernanliegen des Bauhauses. Die 1919 gegründete Schule für Design, Kunst und Architektur bewies unter ihren Direktoren Walter Gropius und Hannes Meyer nicht nur, dass beides sehr wohl miteinander vereinbar ist, sondern auch, dass eine am Gemeinwohl ausgerichtete Architektur innovativ sein kann. Die uns heute umtreibende Frage "Wie werden wir wohnen?" war seinerzeit auch für die Bauhäusler von zentraler Bedeutung.
Bauhaus als Vorbild
Auch wenn es heute nicht darum gehen kann, den damals eingeforderten Standard für alle Zeit festzuschreiben, so taugt er dennoch als Vorbild. Allerdings muss er weiterentwickelt werden, um die Wohnungen an die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen anzupassen. Auch der Klimawandel stellt Architekten zunehmend vor Herausforderungen. Das bedeutet: Weniger Materialverbrauch beim Haus- und Wohnungsbau, weniger Energieverbrauch in der Nutzungsphase, dafür mehr Verwendung recyclingfähiger Baustoffe und nicht-fossiler Energieträger. Ein bewussterer Umgang mit den endlichen Naturressourcen muss jedoch keineswegs zwangsläufig auf ein spartanisches Leben hinauslaufen - das betont etwa der dänische Architekt Bjarke Ingels, der unlängst mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet wurde. Alternative Energiequellen wie Geothermie, Solarenergie und Wasserkraft stehen bereits ebenso zur Verfügung wie Konzepte, die darauf zielen, das Wohnen klima- und umweltfreundlicher zu gestalten.
Großes Potenzial für Einsparung bei den Emissionen
Das Einsparpotenzial ist erheblich: 2018 verursachten die Privathaushalte in Deutschland - direkt und indirekt - fast 207 Millionen Tonnen Kohlendioxid-Emissionen. Leichte Rückgänge, die aufgrund der Nutzung effizienterer Heizungen und erneuerbarer Energieträger zu verzeichnen sind, werden durch den Trend zu immer größeren Wohnungen wieder ausgeglichen: Denn die Wohnfläche pro Kopf steigt und liegt aktuell bei 47,5 Quadratmetern. Anfang der 1990er-Jahre waren es noch gut zehn Quadratmeter weniger. Da zunehmend Wohnungen in neu ausgewiesenen Baugebieten am Rande von Siedlungen entstehen, ist Wohnen ein erheblicher Treiber für den unvermindert hohen Flächenverbrauch in Deutschland. 52 Hektar pro Tag werden hierzulande für Verkehrs- und Siedlungsflächen ausgewiesen.
Dabei gibt es Alternativen: Ansätze zur Begrenzung des Flächenverbrauchs bieten etwa der Umbau von ungeliebten Wohnhochhäusern aus den 1960er- und 1970er-Jahren oder die Umnutzung von Gewerbeimmobilien. In der Hamburger Altstadt wird gerade ein leerstehendes Parkhaus zum Wohnhaus umgebaut. Das Aufsatteln mehrerer Geschosse auf bestehende Gebäude ist ein weiterer Lösungsansatz, um vergleichsweise günstig Wohnraum zu schaffen und Frei- und Grünflächen in der Stadt zu erhalten. Laut einer 2016 veröffentlichten Studie der Technischen Universität Darmstadt und des Pestel-Instituts Hannover eignen sich rund 580 000 Mehrfamilienhäuser aus den 1950er- bis 1990er-Jahren für Aufstockungsmaßnahmen, mit denen bis zu 1,5 Millionen zusätzliche Wohneinheiten geschaffen werden könnten. Das verdeutlicht, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarten 400.000 neuen Wohnungen jährlich keineswegs auf der grünen Wiese entstehen müssen. Die Altlasten einer fehlgeleiteten Stadtentwicklung gehören vielmehr auf den Prüfstand: das Eigenheim im Grünen, die infrastrukturell schlecht angebundenen Vororte, der durch Zersiedlung geförderte Individualverkehr sowie der schlechte und zu teure öffentliche Nahverkehr außerhalb der Ballungsräume. Während die zerfaserte Kohärenz von Stadt eine ineffiziente Infrastruktur begünstigt, muss im Gegenzug die Möglichkeit der Verdichtung dazu führen, diese Tendenzen zu korrigieren und gleichzeitig eine sozial-ökologische Neuausrichtung der Lebens- und Wohnräume zu entwickeln.
Alte Idee neuaufgelegt
Eine Antwort auf die heutige Wohnungsfrage könnte auch eine bereits über 150 Jahre alte Reformbewegung bieten: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in Reaktion auf die Wohnungsmisere in den Arbeitersiedlungen des frühen Industriekapitalismus nach englischem Vorbild auch in Deutschland Wohnungsgenossenschaften. Ihr Ziel: Möglichst preisgünstigen Wohnraum für ihre Mitglieder schaffen. Anknüpfend an die Gartenstadtbewegung bauten Architekten wie Bruno Taut auch Siedlungshäuser mit Nutzgärten, zur Selbstversorgung der Genossenschaftler, so etwa die sogenannte "Tuschkastensiedlung" in Berlin. Nach Ende des Krieges kam es zu einer wahren Gründungswelle - aufgrund der Wohnungsnot wurden ganze Genossenschaftssiedlungen im Geschossbau realisiert, darunter auch die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehörenden Siedlungen des Neuen Bauens in Berlin.
Genossenschaftliche Renaissance
Nicht zufällig ist ausgerechnet in den europäischen Metropolen mit den am stärksten steigenden Mieten in den letzten Jahren eine Renaissance des genossenschaftlichen Wohnens zu beobachten. Wohnungsgenossenschaften sind hier mehr denn je ein Ort der Solidarität in einem umkämpften, spekulativ angeheizten Markt, der zusehends von mächtigen internationalen Immobiliengruppen unter sich aufgeteilt wird, denen die Rendite oberstes Gesetz ist.
Das zeigt exemplarisch die Entwicklung von Wohngenossenschaften in Berlin, Zürich und Barcelona. Berlin verzeichnete laut einer Analyse des Onlineportals Immowelt mit 42 Prozent den höchsten Anstieg bei Neuvermietungen in Deutschland. Die Durchschnittsmiete beläuft sich im ersten Halbjahr 2021 auf 15,2 Euro pro Quadratmeter. Verständlich, dass angesichts dieses Kostenanstiegs in der Hauptstadt solidarwirtschaftliche Wohnmodelle zusehends an Attraktivität gewinnen. 80 Berliner Genossenschaften verwalten derzeit etwa 186.000 Wohnungen. Drei der bekanntesten neuen genossenschaftlichen Wohnprojekte sind Spreefeld am Holzmarkt, WiLMa 19 im ehemaligen Stasi-Verwaltungsgebäude sowie das Kreuzberger IBeB ("Integratives Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt").
Gegenüber Berlin hat Zürich nicht nur wesentlich höhere Wohnungspreise, sondern auch eine seit Jahrzehnten stark verankerte Genossenschaftsbewegung. So entwickelte sich Zürich zur Stadt mit den meisten Genossenschaften in der Schweiz. Im Gegenzug zur hohen Teuerungsrate, die eine Durchschnittsmiete von umgerechnet 31,5 Euro pro Quadratmeter erreicht, entstand ein soziales Korrektiv für den Teil der Bevölkerung, der sich die horrenden Mieten nicht leisten kann. Weil acht Prozent der Stadtbevölkerung auf Sozialleistungen angewiesen sind, garantiert der Stadtrat, dass ein Viertel des Wohnungsbestands dem spekulativen Wohnungsmarkt entzogen wird. Dabei handelt es sich um Wohnungen, die der Kommune, öffentlichen Stiftungen oder Wohnbaugenossenschaf-ten gehören. Zum genossenschaftlichen Bestand zählen 18 Prozent der Wohnungen. Grund und Boden werden ihnen unter günstigen Bedingungen verpachtet, um Bau und Unterhalt erschwinglicher zu machen. In den letzten Jahren entstanden in der Bankenstadt zahlreiche genossenschaftliche Bauvorhaben. Allein im Jahr 2015 wurden 37 Prozent der insgesamt 3.200 neu gebauten Wohnungen von Baugenossenschaften errichtet, darunter das Quartier Zwicky Süd in der ehemaligen Spinnerei Zwicky oder die Kalkbreite, die zu einer einzigartigen Mischung aus Trambahnhof und lebendigem genossenschaftlichem Quartier herangewachsen ist.
Lange Tradition von Wohnungsgenossenschaften in Barcelona
Auch in Barcelona etablierten sich zahlreiche Wohnungsgenossenschaften. Sie gehen auf die Zeit der Zweiten Spanischen Republik in den 1930er-Jahren zurück, als sich die Wanderarbeiter ins "Manchester des Südens" locken ließen. Konsumgenossenschaften im Hafenviertel Poble Nou, die sich dem Prinzip der Solidarität verpflichtet fühlten, machten den Anfang: Sie schufen damals die ersten selbstverwalteten Wohnungen für mehrere hundert Familien aus dem Viertel. Zu diesem Erbe bekennt sich ein junges, 2009 als Genossenschaft gegründetes Architektenteam: Vor dem Hintergrund einer durchschnittlichen Miete von mehr als 17 Euro pro Quadratmeter und einem schwach geförderten sozialen Wohnungsbau gelang es LaCol, in Barcelona mehrere bemerkenswerte genossenschaftliche Wohnprojekte zu moderaten Preisen zu realisieren. In ihrem jüngsten Projekt La Balma erreichten die Architekten durch reduzierte Material- und Energiekosten sogar eine Miete von knapp acht Euro pro Quadratmeter. Nicht der einzige Vorzug: Grundsätzlich kommt jedem Mitglied einer Wohnungsgenossenschaft zugute, dass es wegen seiner monatlichen Abgaben zwar Mieter ist, aber gleichzeitig durch Erwerb seines Anteilsscheins auch ein Eigentumsrecht besitzt. Daraus ergibt sich ein lebenslanges und vererbbares Wohnrecht bei gleichbleibenden oder geringfügig steigenden Mieten - angesichts des hoch spekulativen Wohnungsmarktes in Barcelona ein rettendes Refugium.
Für seine genossenschaftlichen Wohnprojekte ist das Architektenteam LaCol mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Das liegt vor allem an einem Projekt, mit dem die Architekten kürzlich für den renommierten Mies-van-der-Rohe-Award nominiert wurden: 2019 entstand es in Kooperation mit der Wohnungsgenossenschaft La Borda angrenzend zu einer ehemaligen Textilfabrik im Stadtbezirk Sants. Die Kommune hatte der Genossenschaft durch Erbpacht hier ein Grundstück übereignet, für das sie 75 Jahre lang ein Nutzungsrecht erhielt. LaCol baute darauf ein Genossenschaftshaus mit einem großzügigen, luftigen Atrium und offenen Gemeinschaftsflächen. Bewusst verwendeten die Architekten dabei möglichst viel nachwachsende oder recyclingfähige Baustoffe wie Holz. Das Polycarbonatdach über dem Atrium fängt im Winter die Sonnenwärme ein und sorgt im Sommer für zusätzliche Belüftung. Das spart Energie - und schont Klima wie Geldbeutel der Bewohner.
Ökologischer Fußabdruck
Ein weiteres Glück für die Genossenschaftler: Dank dem "ethischen und solidarischen Finanzdienstleister" Coop 57 beläuft sich der Eigenanteil eines jeden Anteilseigners lediglich auf 18.500 Euro. Um den Kredit zurückzahlen zu können, vereinbarten Geldgeber und Genossenschaftler eine durchschnittliche Miete von 450 Euro. Die Größe der insgesamt 28 Wohnungen variiert zwar - es gibt kleinere für Singles mit 40 Quadratmetern wie größere für Familien oder WGs mit bis zu 150 Quadratmetern -, doch die insgesamt reduzierte Fläche zollt dem Wunsch der Genossenschaftler nach einem geringeren ökologischen Fußabdruck Rechnung. Im Gegenzug profitieren sie von Gemeinschaftsräumen und "Optionsräumen", die für private oder berufliche Zwecke hinzugemietet werden.
Ob Barcelona, Zürich oder Berlin: Angesichts der überteuerten Wohnungsmärkte haben sich genossenschaftliche Wohnprojekte bewährt. Das Bauen ohne Profitstreben kommt nicht nur den Bewohnern zugute - Projekte wie La Borda, Kalkbreite oder Spreefeld leisten auch einen Beitrag zum sozial-ökologischen Umbau der Stadt.
Der Autor ist Architekturpublizist und Verfasser des im Reclam-Verlag erschienenen Buches "Wie wir wohnen werden".
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