Erich Köhler (1949-50) : Der noble, aber kranke Präsident
Er war der temperamentvollen Atmosphäre des 1. Bundestages nicht gewachsen.
Am 7. September 1949. In Bonn konstituiert sich der 1. Deutsche Bundestag. 402 Abgeordnete aus den drei Besatzungszonen der westlichen Alliierten wurden am 14. August 1949 in den Bundestag gewählt. Die Bundesrepublik Deutschland, am 23. Mai 1949 gegründet, nimmt Gestalt an.
Keiner der in den Bundestag gewählten Abgeordneten weiß, was ihn erwarten wird. Umgekehrt kommt jeder mit seiner eigenen Biographie und eigenen Hoffnungen ins "Hohe Haus". Allen Abgeordneten sind die Gräueltaten des "Tausendjährigen Reiches" in lebhafter Erinnerung. Viele hatten während der Nazi-Herrschaft und des Krieges gelitten und wurden verfolgt, andere waren Mitläufer gewesen und waren mehr oder weniger problemlos entnazifiziert worden. Die letzten vier Jahre hatte Deutschland unter alliiertem Besatzungsrecht gestanden. Auch weil die Sowjetunion wiederholt Wiedervereinigungsangebote unterbreitete, glaubten viele und hofften noch mehr Abgeordnete an eine baldige Wiedervereinigung eines freien Deutschlands.
Die Konstituierung des 1. Deutschen Bundestages am 7. September 1949 war ein Neuanfang, aber kein Novum. "Parlamentarismus" war 1949 in Deutschland kein Fremdwort. Die deutschen Länder wählten seit 1946 Parlamente und konnten bei ihrer Verfassunggebung an Erfahrungen aus den Jahren vor dem "Dritten Reich" anknüpfen. Und schließlich tagte noch wenige Monate zuvor in Bonn der Parlamentarische Rat. Er schuf das Grundgesetz für die Bundesrepublik, das nach westalliierter Genehmigung am 23. Mai 1949 verkündet wurde und seit dem 24. Mai 1949 in Kraft war.
Vorschusslorbeeren für Köhler
Schon die "Mütter" und "Väter" des Grundgesetzes waren der festen Überzeugung, aus Weimar gelernt zu haben. Nun, mit der Schaffung der ersten Verfassungsorgane wie Bundestag, Bundesrat, Bundeskanzler und Bundespräsident, sollte das Grundgesetz seine Praktikabilität unter Beweis stellen. Vergleiche des Bundestages mit dem Reichstag der Weimarer Jahre wurden in der jungen Bundesrepublik nicht gescheut.
In diesen Jahren war Politik noch Männersache. Erich Köhler war neben Konrad Adenauer, Heinrich von Brentano, Kurt Schumacher Erich Ollenhauer, Carlo Schmid einer dieser Männer. Er hatte sein Können bereits als Fraktionschef der CDU im Hessischen Landtag und als Präsident des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes in Frankfurt am Main unter Beweis gestellt. Aufgrund seiner parteipolitischen Zusammensetzung war der Wirtschaftsrat - wie übrigens auch der Parlamentarische Rat - darauf angewiesen, dass CDU/CSU und SPD an einem Strang zogen. Köhler war dieser Ausgleich zwischen der damals noch stark sozialistisch geprägten SPD und der CDU/CSU im Wirtschaftsrat gelungen. Das setzte ihn dem Verdacht aus, er könnte Anhänger einer Großen Koalition auch im Bundestag sein.
Als sich herauskristallisierte, dass - wie schon im Weimarer Reichstag - die stärkste Fraktion den Bundestagspräsidenten stellen würde, lief die Wahl auf Köhler hinaus: Er hatte Parlamentserfahrungen und war Protestant. Letzteres war angesichts der konfessionellen Polarisierungen in der damals von Katholiken dominierten CDU nicht unerheblich. Weil auch der als Bundeskanzler auserkorene Konrad Adenauer der Überzeugung war, Köhler sei Anhänger einer Großen Koalition, hatte er ihn als möglichen Gegenkandidaten von vornherein ausgeschaltet, in dem er ihn für das Amt des Bundestagspräsidenten vorschlug; es kam hinzu, dass ein Bundestagspräsident bekanntlich auf Überparteilichkeit bedacht sein musste.
Breite Mehrheit
Erich Köhler wurde mit breiter Mehrheit von 346 von 402 Stimmen in der konstituierenden Sitzung des Bundestages am 7. September 1949 zum Bundestagspräsidenten gewählt. In seiner Antrittsrede stellte er nicht ohne Pathos, das eine solche geschichtsträchtige Stunde verlangte, heraus: "Eine der edelsten Zielsetzungen, die uns wohl hier in diesem Hause über die Verschiedenheit der politischen Anschauungen hinweg verbinden, ist doch die, daß die Menschenwürde sich wieder in jedem Deutschen uneingeschränkt und nach jeder Richtung hin entfalten kann. Die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit soll und muß das oberste Gesetz unseres gesetzgeberischen Handelns in Zukunft sein. Geistige und politische Freiheit des Menschen, Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung sind die edelsten Güter einer wahrhaften Demokratie. Sie zu sichern [...], wird eine unserer wichtigsten Aufgaben sein."
Bei Sonntagsreden sollte es nicht bleiben. Der Alltag im 1. Deutschen Bundestag sah anders aus. Weit über 30 Ausschüsse wurden gebildet, die die einzelnen Politikfelder bearbeiten sollten. Dazu zählte auch der "Organisationsausschuss", der den Präsidenten beim Aufbau der Verwaltung des Deutschen Bundestages beriet. Beherzt griff Köhler auch Anregungen für eine vielseitige Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages auf, um in der Bevölkerung Demokratievertrauen zu schaffen.
Zu den bedeutendsten Ausschüssen des 1. Bundestages zählte der Geschäftsordnungsausschuss. Der Bundestag hatte sich zunächst als vorläufige Geschäftsordnung jene des Reichstags von 1922 gewählt. Der Ausschuss aber sollte zügig eine "endgültige Geschäftsordnung" erarbeiten, die schließlich 1951 vorgelegt wurde. Köhler begleitete die Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses und arbeitete eng und vertrauensvoll mit dessen Vorsitzenden Heinrich Georg Ritzel (SPD) zusammen.
Naturgemäß drangen aus den Ausschüssen nur wenige Informationen an die Öffentlichkeit. Umso größere Beachtungen fanden auch international die Plenarsitzungen. Von Beginn an unterminierte die aus 14 Männern und einer Frau bestehende Fraktion der Kommunistischen Partei (KPD) die Arbeit des Parlaments. Sie provozierten den Präsidenten des Bundestages während der Sitzungen mit Zwischenrufen und ungebührlichen Auftritten. Auf die Kommunisten fielen von insgesamt 156 Ordnungsrufen in der 1. Wahlperiode alleine 100 Ordnungsrufe. Acht von 17 Sitzungsausschlüssen und zahlreiche Wortentziehungen kamen für die KPD hinzu.
Ärger mit der KPD
Bei Abstimmungen wurde allzu häufig die Zählung der Stimmen beantragt; den Hammelsprung aber durchzuführen war mit dem Verlassen des Plenarsaals und dem einzelnen Eintreten der Abgeordneten verbunden, was enorm viel Zeit in Anspruch nahm. Schon deswegen befürwortete Köhler die Einführung einer technischen oder elektronischen Abstimmungsanlage. Dennoch machte sich bei manchem Abgeordneten der Eindruck breit, Köhler liebe es, Nachtsitzungen vorzunehmen.
Wiederholt drängte sich der Eindruck auf, dass Köhler nicht Herr der Lage war. Wenn er die Leitung der Plenarsitzung an einen seiner Vizepräsidenten abtrat, war Köhler meistens schweißgebadet. In der Nacht vom 24./25. November 1949 kam es zu dem berühmten Ausspruch des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher, der Adenauer vorwarf, "Bundeskanzler der Alliierten" zu sein. Dererlei Vorwürfe an Adenauer gab es zuvor eigentlich nur von den Kommunisten, die von der CDU nicht ohne Grund als "Handlanger Moskaus" betrachtet worden waren. Nun hatte sich auch Schumacher zu einer solchen Bemerkung hinreißen lassen. Dem Parlamentspräsidenten Köhler war es nicht gelungen, die Schärfe der Diskussion zu mildern. Im Gegenteil: Durch Überreaktion und unangemessene Sanktionen spitzte sich die Lage ständig zu. Feindseligkeiten und persönliche Verletzungen zwischen gegnerischen Fraktionen konnte Köhler nicht einschränken. Noch hielt die CDU/CSU-Fraktion zu ihrem Präsidenten.
Disziplinlosigkeit des Parlaments
Am 10. November 1949 war es ihr Fraktionsvorsitzender Heinrich von Brentano, der darauf hinwies, dass "die Disziplinlosigkeit des Parlaments" schlimmer sei "als das zeitweilige Versagen von Dr. Köhler". Die Kritik an der Amtsführung des Präsidenten wuchs stetig an. Im Frühjahr 1950 bereitete die SPD-Fraktion ein Misstrauensvotum vor. Doch Missbilligungsanträge gegen ein Mitglied des Präsidiums waren unzulässig.
Köhler war ein "nobler Mann", aber er war krank. War er für die Leitung des nur 104 Mitglieder zählenden Wirtschaftrates die ideale Besetzung, so war er nun der Aufgabe des Bundestagspräsidenten nicht gewachsen. Sogar in Fraktionssitzungen kam es zu "starken Tempramentsausbrüchen". Köhler war ein nervöser Mann und hatte sich offensichtlich nicht immer unter Kontrolle. Mit jedem weiteren Konflikt, namentlich mit Bundeskanzler Adenauer, wurde Köhler zusehends kränker.
Als im September 1950 schließlich der "Bonner Pressekrieg" entbrannte, weil Köhler namens des Bundestages glaubte, die Presse wegen negativer Berichterstattung kritisieren zu müssen, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Danach verlor er auch die Unterstützung seiner eigenen Fraktion.
Seinen Rücktritt als Parlamentspräsident erklärte Köhler mit Schreiben vom 18. Oktober 1950 mit einem bevorstehenden Wechsel in den diplomatischen Dienst. Tatsächlich war er zu diesem Zeitpunkt als Generalkonsul für Australien vom Bundeskabinett bestätigt worden, doch Bundespräsident Theodor Heuss verhinderte die Berufung Köhlers. Er glaubte, dass ein gescheiterter Parlamentspräsident schlechterdings die junge Bundesrepublik im Ausland vertreten sollte. Nun aber sprang Adenauer Köhler zur Seite. Adenauer schrieb am 23. Oktober
1950 an Heuss: "Herr Köhler hat als Präsident des Bundestages versagt."
Doch angesichts Köhlers unbestritten "großer Verdienste" um den Wirtschaftsrat schiene er durchaus für den diplomatischen Dienst geeignet. Köhler fand dort jedoch keine Verwendung. Nachdem er aber die Bürde des Parlamentspräsidenten abgestreift hatte, kam er bald wieder zu Kräften und blieb bis 1957 "stummes Mitglied" der CDU/CSU-Fraktion. Nach Ablauf der 2. Wahlperiode aus dem Bundestag ausgeschieden, starb der am 27. Juni 1892 in Erfurt geborene und 1919 promovierte Staatswissenschaftler am 23. Oktober 1958 in Wiesbaden im Alter von 66 Jahren.
Der Autor Michael F. Feldkamp (geb. 1962) ist Historiker und arbeitet mit Unterbrechungen seit 1993 in der Bundestagsverwaltung.