9. November 1989 : Überraschendes Ende ewiger Wahrheiten
Am Morgen dieses Donnerstags des Jahres 1989 ahnt noch kein Mensch, dass sich die Tore in der Berliner Mauer noch vor Mitternacht öffnen werden.
Dialog kurz vor Mitternacht, Donnerstag 9. November 1989, Berlin-Pankow, Schönhauser Allee. "Na, wo wollt ihr denn hin?", fragt ein älterer Herr zwei Jugendliche, die ihn fast umrennen. "Zur Bornholmer Straße."- "Und was wollt ihr da?" - "Mensch Opa, die Bretter sind weg! Die Bretter sind weg! Auf zum Kurfürstendamm. 28 Jahre habe ich darauf gewartet!" - "Wie alt bist du?" - "26".
In dieser Nacht geht Berlin nicht schlafen. Es wird die Nacht der Nächte in Berlin, seit dem 13. August 1961 in einen West- und einen Ost-Teil gespalten, getrennt durch die Mauer. Nie hat man so viele fröhliche Menschen gesehen in der DDR. Dass die kommenden Tage die schönsten im Leben vieler Bürger werden, ahnt am Morgen kaum jemand. Zwar jagen sich Gerüchte, aber an den Fall der Mauer wagt kaum einer zu denken.
Demonstrationen für eine andere Republik
Die SED hat abgewirtschaftet. Den meist jungen Flüchtlingen in der Prager Botschaft, die mit dem Zug in die Bundesrepublik fahren, ruft die DDR-Führung am 30. September nach: "Man sollte ihnen keine Träne nachweinen." Doch ein Staat, der der Jugend die Tür weist, verliert selbst bei Anhängern und Mitläufern Ansehen; viele ihrer Kinder sind in Prag. Eine Woche später gibt KPdSU-Chef Michail Gorbatschow in Ost-Berlin zu Protokoll: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!" Schlafmützen wollen die Menschen nicht sein. Gorbatschows Kurs von Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umbau) lässt ihn zum Hoffnungsträger werden. Die SED unter Erich Honecker aber fremdelt mit ihm. Polen und Ungarn hingegen sind längst auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Ungarn reißt den Stacheldraht im Westen nieder, lässt Botschaftsflüchtlinge ausfliegen und Leute, die nicht in die DDR zurück wollen, dürfen in den deutschen Westen fahren. Polen hat mit Tadeusz Mazowiecki den ersten nichtkommunistischen Regierungschef.
Noch am 9. Oktober will Honecker die Massenproteste in Leipzig gewaltsam niederschlagen. Doch die große Zahl Demonstranten lässt ihn zögern. Die Demonstranten auf dem Ring in Leipzig rufen: "Wir sind das Volk!" Am 17. Oktober stürzt Honecker, auch wegen des "Tränen"-Satzes. Nachfolger Egon Krenz will verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, doch das gelingt nicht. Die Menschen sehen sich im "Vogelkäfig"; ein SED-Spitzenmann sagt Österreichs Botschafter: "Der Kerker muss weg!" Am 4. November demonstrieren in Berlin Menschenmassen (Schätzungen liegen zwischen 500.000 und einer Million) für eine andere Republik. Sie fordern freie Wahlen und nicht Wahlen wie im März bei der Kommunalwahl, als das Ergebnis schon feststand, bevor die Wähler an der Urne waren.
Schabowskis Pressekonferenz verändert die Welt
Vom 8. bis 10. November tagt das SED-Zentralkomitee, das höchste Gremium zwischen den alle fünf Jahre stattfindenden Parteitagen. Auf einer Pressekonferenz am 9. November liest SED-Politiker Günter Schabowski eine "Übergangsregelung" vor: " haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen." Und: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt." Auf die Frage, wann das gelte, sagt er: "Unverzüglich. Sofort!" Diese Sätze verändern die Welt: Vier Monate später gibt es freie Wahlen in der DDR. Nach elf Monaten ist Deutschland vereint. Auch die CSSR, Bulgarien und Rumänien schütteln die kommunistische Diktatur ab. Die Sowjetunion zerfällt in 14 selbstständige Staaten.
Die Agenturen melden: "DDR öffnet Grenze." Natürlich rechnet die SED damit, alle werden brav die Genehmigung beantragen, zumal nur wenige einen Pass haben. Doch immer mehr Menschen gehen zur Grenze, um zu sehen, was geschieht. Für Historiker Hans-Hermann Hertle haben die Medien großen Anteil an der Entwicklung. Moderator Hanns Joachim Friedrichs sagt um 22.42 Uhr in den "Tagesthemen": "Die Tore in der Mauer stehen weit offen". Auf zur Grenze, heißt für viele DDR-Bürger die Parole. Aber noch ist kein Übergang offen.
Schlagbaum an der Bornholmer Straße in Berlin öffnet um 23.15 Uhr
Besonders stark ist der Andrang im Norden Berlins an der Bornholmer Straße. Gegen 22 Uhr rufen viele: "Wir wollen rüber!" Die Idee, die größten Krakeeler zu greifen, ihren Ausweis ungültig zu stempeln und sie sozusagen auszuweisen, hilft kaum. Die Wartenden denken: Wer am meisten schreit, darf gen Westen. Gegen 23.15 Uhr befiehlt der diensthabende Leiter Harald Jäger ohne Rücksprache: "Macht den Schlagbaum auf!" Der Grenzübergang meldet: "Wir fluten jetzt." Nach 30 Minuten dürfen alle Grenzstellen aufmachen. Die Maueröffnung haben die Menschen in Ost-Berlin erzwungen.
Die Wächter fürchten die feindselige Stimmung der Leute. Doch die umarmen sich, sind überglücklich, bedanken sich, Frauen geben Küsschen auf die Wange, eine Braut in Weiß wirft Jäger ihren Brautstrauß zu. Die Menschen kommen wie sie gerade sind: Jacken, Hosen und Kleider über den Schlafanzug und los.
"Wahnsinn!" ist das Wort dieser Nacht. "Wahnsinn" ist, wenn die Menschen den Schlagbaum ohne Kontrolle passieren, "Wahnsinn" sind die ersten Schritte im Westen in ein unbekanntes Land, das nur die andere Hälfte der Stadt ist. Bald kommen die ersten zurück, zeigen ihre Trophäen, Zeitungen mit Schlagzeilen vom Mauerfall. "Wahnsinn!"
NVA ist in Gefechtsbereitschaft
Am Brandenburger Tor ist die Mauer besonders dick. Die DDR glaubte, dort werde der Westen militärisch durchbrechen. Die Panzermauer eignet sich zum Klettern. Über 30 Stunden stehen Tausende Menschen aus Ost und West dort und zeigen der Welt, dass die Mauer keine Bedrohung mehr ist. Die Nationale Volksarmee (NVA) ist seit Freitagfrüh in Gefechtsbereitschaft. Verteidigungsminister Heinz Keßler fürchtet einen Sturm auf das Tor und fragt, ob nicht zwei Regimenter nach Berlin marschieren sollten, findet aber keine Unterstützung. Die Soldaten bleiben in den Kasernen. Die Gefechtsbereitschaft wird am nächsten Tag aufgehoben. Die Menschen auf der Mauer werden gewaltfrei abgedrängt. Soldaten nehmen ihren Platz ein.
"Wir Deutschen sind das glücklichste Volk der Welt", ruft Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper am Freitag Abend während einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus. Kanzler Helmut Kohl, der seinen Besuch in Polen unterbrochen hat, appelliert an die DDR: "Verzichten Sie auf Ihr Machtmonopol." Und Ex-Kanzler Willy Brandt, 1961 Bürgermeister in Berlin, bringt es in einem Interview auf den Punkt: "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört."
DDR-Führung machte einmal mehr die Rechnung ohne die Menschen
War der Mauerfall ein Versehen? Nein! Krenz und Schabowski luden schon am Tag nach Honeckers Abgang die Spitze der Evangelischen Kirche zum Gespräch. Dabei kündigen sie an, bis Jahresende dürfen alle gen Westen reisen. Kirchenmann Manfred Stolpe organisiert deshalb für den 29. Oktober ein Gespräch zwischen Schabowski und Momper. Ein Datum erfährt Momper nicht, trifft aber Vorkehrungen. Deshalb fahren, kaum ist die Grenze offen, alle paar Minuten Busse von den Übergängen zum Bahnhof Zoo. Momper hatte mit 500.000 Besuchern am Tag gerechnet. Am Samstag und Sonntag sind es jeweils mehr als eine Million. Der Westteil der Stadt platzt aus allen Nähten. Leute, die trotz Warnung mit dem Auto kommen, stehen die meiste Zeit im Stau. Es sollte anders ablaufen. Aber die DDR-Führung hat einmal mehr die Rechnung ohne die Menschen gemacht.
Die DDR war ein Land "ewiger Wahrheiten". Wie schnell sich "auf ewig" angelegte Verhältnisse ändern, zeigt der 11. November. Richard von Weizsäcker, Präsident des westdeutschen Teilstaats, geht zum Potsdamer Platz, einst der Platz, auf dem das Herz der Metropole schlug. Seit dem Mauerbau verkam er zur Einöde. Am Morgen reißen DDR-Soldaten dort die Mauer auf, eröffnen einen neuen Übergang, einen von mehreren. Der Leiter der DDR-Grenztruppe nimmt Haltung an, salutiert, nennt Namen und Dienstgrad und sagt: “Herr Bundespräsident. Ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse!”
Der Autor war von 1977 bis 1990 DDR-Korrespondent bei der „Frankfurter Rundschau“.