Bundestagspräsidentin Bärbel Bas : "Das ist wirklich zu wenig"
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas über ihr erstes Jahr im zweithöchsten Staatsamt, das Parlament in Krisenzeiten, Wahlrechtsreformen und ihre Arbeit im Wahlkreis.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) in ihrem Büro im Berliner Reichstagsgebäude.
Frau Präsidentin, Sie stehen jetzt seit einem Jahr an der Spitze des Bundestages. In diesem Jahr scheint sich so ziemlich alles verändert zu haben, ausgelöst vom russischen Krieg gegen die Ukraine. Sehen Sie vor den unzähligen Herausforderungen eine besondere Aufgabe auch für das zweithöchste Amt im Staat?
Bärbel Bas: In diesen besonders herausfordernden Zeiten für uns alle hat sich mit dem Krieg auch die Rolle unseres Parlaments und meine Rolle als Bundestagspräsidentin verändert. Wir sind im Krisenmodus. Das merke ich zum Beispiel bei meiner Rolle als Repräsentantin des Deutschen Bundestages im Ausland. Bei meinen ersten Treffen mit anderen Parlamentspräsidentinnen oder -präsidenten haben wir stärker über praktische Fragen gesprochen: Wie die Parlamente arbeiten, wer schon digital abstimmt. Mit dem Krieg haben die außenpolitischen Termine deutlich zugenommen. So nehme ich in diesen Tagen an der Krim-Plattform teil, zu der mich mein ukrainischer Amtskollege Ruslan Stefantschuk nach Zagreb eingeladen hat. Die Themen Energieversorgung und Preissteigerungen drohen in vielen Ländern zu sozialen Problemen zu führen. Natürlich ist all das gerade für die Parlamente und ihre Abgeordneten eine große Herausforderung. Es geht um den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Akzeptanz politischer Entscheidungen in Krisenzeiten bei uns und in Europa.
Zeiten, in denen viele Menschen das Gefühl haben , dass sie eine Krise nach der anderen durchleben müssen: Erst die Pandemie, dann der russische Überfall auf die Ukraine, die Energiekrise, daneben der Klimawandel. Inwieweit spüren Sie das auch im Parlamentsbetrieb?
Bärbel Bas: Wir haben mehrere schwierige Krisen parallel. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, gerade steigen wieder die Infektionszahlen. Dazu kommt die Energiekrise. Und absehbar eine Rezession. Als der Koalitionsvertrag vereinbart wurde, sah die Welt noch anders aus. Da ging es um viele in die Zukunft gerichtete Themen, die wir nicht vergessen dürfen. Jetzt spürt man im Parlamentsbetrieb, dass es überwiegend um Krisenmanagement geht.
Wie macht sich das bemerkbar?
Bärbel Bas: Abläufe werden komprimiert, Fristen werden abgekürzt. Das beschäftigt mich natürlich als Präsidentin. Mir ist es wichtig, dass die Abgeordneten genug Zeit haben, Themen zu beraten. Wenn viele wichtige Themen parallel laufen, ist das eine große Herausforderung für alle Abgeordneten, auch für die erfahrenen. Positiv ist aber: Der Deutsche Bundestag war selbst in den schwierigsten Coronamonaten jederzeit arbeitsfähig, und auch die aktuellen Abläufe bekommen wir hin, Abgeordnete und Verwaltung in gemeinsamer Anstrengung.
Sie gehören seit 2009 dem Bundestag an, haben sich einen Namen gemacht als profilierte Gesundheitspolitikerin. Sie sagten eben, dass die aktuelle Situation in der Außenpolitik mehr inhaltliche Diskussionen mit sich bringt. Wie ist das innenpolitisch: Können Sie sich da noch in das Tagesgeschäft einbringen - und falls nicht: Vermissen Sie das?
Bärbel Bas: Ich würde mich einbringen, wenn ich es für notwendig halte. Aber natürlich hat man im Amt der Bundestagspräsidentin eine andere Rolle. Das bedeutet ganz klar weniger politisches Tagesgeschäft. Ob ich das vermisse? In den vergangenen Jahren habe ich zum Beispiel intensiv am Infektionsschutzgesetz gearbeitet; diese Nachtsitzungen vermisse ich nicht. Auf der anderen Seite gibt es viele parlamentarische Themen, aktuell zum Beispiel die Wahlrechtsreform, wo ich mich als Präsidentin des Bundestags einmischen kann, und dies im Sinne der Wählerinnen und Wähler auch tue. Sicherlich bleibe ich auch bei anderen Themen nicht immer völlig neutral, weil ich nach wie vor Abgeordnete bin. Ich stimme als Abgeordnete ab und habe meinen Wahlkreis in Duisburg, aus dem ich die Themen der Menschen mit nach Berlin nehme. Aber in meiner Rolle als Präsidentin vertrete ich das Haus in Gänze.
Schaffen Sie es noch, im Wahlkreis Termine so wie früher wahrzunehmen, etwa mit Bürgersprechstunden?
Bärbel Bas: Die Wochen im Wahlkreis sind leider etwas weniger geworden, vor allem da ich Auslandsreisen immer in Nicht-Sitzungswochen absolviere. Während der Sitzungswochen bin ich natürlich durchgehend hier im Hause. Wenn ich Glück habe, schaffe ich in sitzungsfreien Wochen drei Tage in meinem Wahlkreis, die ich dann intensiv für Bürgergespräche, Treffen mit Organisationen oder Unternehmensbesuche nutze. Mir ist es sehr wichtig, mich vor Ort auszutauschen und die Stimmung der Bürgerinnen und Bürger aufzunehmen. Dafür sind wir Abgeordneten da.
In Ihrer Rede zum Tag der Deutschen Einheit betonten Sie die Bedeutung des demokratischen Streits und mahnten, dass die Demokratie Schaden nehme, wenn sich engagierte Menschen zurückzögen. Der Bundestag sollte in der Form der demokratischen Auseinandersetzung Vorbild sein. Welche Note bekommt er in diesem ersten Jahr der 20. Wahlperiode?
Bärbel Bas: Die Frage ist, wofür ich die Note vergebe: Für die Diskussionskultur? Dafür, wie wir von außen wahrgenommen werden? Also, insgesamt: Da wir noch Verbesserungsmöglichkeiten haben, würde ich uns für das erste Jahr eine Drei plus geben. Ich habe in meiner Antrittsrede gesagt, dass es wichtig ist, wie wir hier im Haus miteinander reden. Wir haben sehr viele Bürgerinnen und Bürger, die die Debatten verfolgen, und ich bekomme viele Briefe, in denen es heißt, wir benähmen uns manchmal wie im Kindergarten. Tatsächlich können wir im Parlament beim Umgang miteinander noch besser werden. Als Präsidium achten wir gemeinsam darauf, dass es fair zugeht und gleichzeitig eine lebendige Debatte möglich ist. Konstruktiver Streit ist das Kernstück parlamentarischer Demokratie - hart in der Sache, aber fair im Umgang.
Bei der Bundestagswahl vor einem Jahr sind relativ viele junge Politiker ins Parlament gewählt worden. Spüren Sie neue Akzente, die die Newcomer setzen?
Bärbel Bas: Vielen Newcomern geht es so wie mir am Anfang: Man will sofort Dinge umsetzen. Ich denke, vielen Jungen fehlt noch die Geduld, was die Abläufe angeht, und vielleicht ist diese Unruhe auch ganz gut. Sie wollen digital arbeiten. Sie kommen aus einer ganz anderen Kultur. Die jungen Abgeordneten drängen darauf, dass wir modernere Strukturen im Haus bekommen. Dass die Prozesse schneller und einfacher ablaufen. Ich teile viele dieser Punkte und wir arbeiten daran.
Modernere Strukturen, worauf zielt das?
Bärbel Bas: Das zielt auch auf Politik und Familie. In dieser Legislaturperiode sind unter den Abgeordneten viele junge Mütter und Väter, die sagen: Familie ist mit unserem Sitzungsrhythmus kaum zu vereinbaren. Und wenn ihr Kind in einer Sitzungswoche mit dabei ist, wünschen sie sich, dass sie hier im Bundestag auch ausgestattete Räumlichkeiten haben, wo die Kinder betreut werden können. Da hat mein Vorgänger Wolfgang Schäuble schon viel möglich gemacht und wir arbeiten auch bei diesem Thema an Verbesserungen. Ein noch schwierigerer Punkt sind die Nachtsitzungen. Das werde ich bedauerlicherweise nicht lösen können, weil die Fraktionen selbst bestimmen, wie sie die Tagesordnung gestalten und wie viel Redezeit sie ansetzen. Wenn wir bis tief in die Nacht tagen, geht das an die Substanz und macht jungen Eltern die Betreuung ihrer Kinder schwierig. Das gilt übrigens auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abgeordneten und der Bundestagsverwaltung.
Sie haben jüngst mit einer Ihrer beiden Vorgängerinnen im Amt, Rita Süssmuth, eine Veranstaltung zum Thema Parität, also zur gleichen Teilhabe von Frauen in der Politik bestritten und darauf verwiesen, dass wir jetzt ein paritätisch besetztes Kabinett haben und im Bundestagspräsidium sogar mehr Frauen als Männer sitzen. Aber bei den Abgeordneten sind derzeit mit knapp 35 Prozent noch immer nur rund ein Drittel Frauen...
Bärbel Bas: Wir sollten auf jeden Fall weiter mit allem Nachdruck darauf drängen, den Frauenanteil in den Parlamenten zu erhöhen: Gelingt es, verfassungsrechtlich zulässige Möglichkeiten zu finden, bei der Listenaufstellung zu mehr Parität zu kommen? Es gab ja zwei Urteile, die zumindest in der Begründung Möglichkeiten aufzeigten.
Von den Landesverfassungsgerichten in Brandenburg und Thüringen...
Bärbel Bas: Genau. Diese Rechtslage müssen wir mit Engagement und mit großer Sorgfalt prüfen. Die Parteien, die jetzt schon freiwillig paritätische Listen aufstellen, sind auch diejenigen mit dem größten Frauenanteil hier im Parlament. Die Quotenregelungen bringen also schon etwas. Aber 34,8 Prozent sind, nicht nur mir, wirklich zu wenig. Wir kommen seit zwanzig Jahren über diese Ein-Drittel-Grenze einfach nicht hinaus. Deswegen sollten wir dringend nach weiteren Instrumenten suchen.
Aber den Parteien paritätische Listen vorzuschreiben, haben beide Gerichte ausgeschlossen.
Bärbel Bas: Ich würde trotzdem weiter versuchen, rechtliche Möglichkeiten zu finden, über das Wahlverfahren zu einem gerechteren Frauenanteil in den Parlamenten zu kommen. Das betrifft ja nicht nur den Bundestag, sondern auch Landes- und Kommunalparlamente. Die Wahlrechtskommission sucht hier nach wie vor nach Lösungen.
Vor allem soll die Kommission Vorschläge zur Verkleinerung der Abgeordnetenzahl erarbeiten. 598 sollten es eigentlich sein, 736 sind es jetzt. Mal abgesehen von den Kosten: Sind 736 Abgeordnete zu viel? Der Bundestag scheint durchaus arbeitsfähig...
Bärbel Bas: Dass er arbeitsfähig ist, zeigen wir ja. Aber dass diese große Abgeordnetenzahl zu einer Erschwerung der Arbeit führt, ist für uns alle hier offensichtlich. Mein größtes Problem ist zudem, dass es nach oben keine Begrenzung gibt: Beim nächsten Mal könnten es auch 800 oder 900 Abgeordneten sein, und dann komme ich an faktische Grenzen. Allein bei den Räumlichkeiten. Bei der jetzigen Größe des Bundestages passt alles noch so gerade eben, die Verwaltung hat da wirklich Enormes geleistet, aber bei 800 oder mehr Abgeordneten müssten wir zum Beispiel in großem Stil zusätzliche Räume in externen Liegenschaften anmieten, was enorme logistische und Sicherheitsprobleme bedeutet, von den Kosten ganz zu schweigen.
Bis wann, meinen Sie, muss die Wahlrechtskommission hierzu Ergebnisse vorlegen?
Bärbel Bas: Soweit es um die Größe des Bundestages geht und um die Frage eines Neuzuschnitts von Wahlkreisen, muss es spätestens Anfang nächsten Jahres zu einer Grundsatzentscheidung kommen. Ansonsten gälte die aktuelle Gesetzeslage, dass die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden soll. Ich höre, dass es in der Wahlrechtskommission einen breiten Konsens gibt, bei 299 Wahlkreisen bleiben zu wollen. Dann muss es aber auch spätestens Anfang 2023 eine Entscheidung dazu geben! Wir müssen zwingend wissen, ob die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssen. Denn das wäre ein längerer Prozess, der rechtzeitig vor der Wahl rechtskräftig abgeschlossen sein müsste. Ich erwarte daher baldige Klarheit zum Wahlverfahren. Andere Themen, wie die angesprochenen Paritätsfragen und eine mögliche Absenkung des Wahlalters, behandelt die Kommission gerade. Wir müssen auch damit rechnen, dass das neue Wahlgesetz gerichtlich überprüft wird. Darum meine ich, dass wir jetzt zügig zu den nötigen Entscheidungen kommen müssen.
Ein Teil der Bundestagswahl 2021 wird voraussichtlich wiederholt, nämlich in Berlin wegen der zahlreichen Pannen am Wahltag. Die Beratungen im Wahlprüfungsausschuss sind sehr strittig, auch Bundes- und Landeswahlleitung sind sich in der Bewertung der Pannen nicht einig. Schadet ein solcher Streit der Wahlprüfung?
Bärbel Bas: Konstruktiver und fairer Streit ist grundsätzlich wichtig für unsere Demokratie. Bei Fragen der Wahlprüfung wünsche ich mir allerdings einen möglichst breiten Konsens - wie bei allen Fragen des Wahlrechts. Die Wählerinnen und Wähler müssen darauf vertrauen können, dass Wahlen ordnungsgemäß ablaufen. Nur dann werden die Menschen auch zukünftig zur Wahl gehen und sich aktiv an unserer Demokratie beteiligen.
Zur Person:
Bärbel Bas wurde 1968 in Walsum (heute Duisburg) geboren und absolvierte nach verschiedenen Aus- und Fortbildungen ein Abendstudium zur Personalmanagementökonomin. 1988 trat sie in die SPD Duisburg ein und war von 1994 bis 2002 Mitglied im Rat ihrer Heimatstadt. Dem Bundestag gehört die stets direkt gewählte Duisburger Abgeordnete seit 2009 an. Seit Oktober 2021 ist die verwitwete Sozialdemokratin mit den Hobbys Fußball und Motorradfahren Präsidentin des Deutschen Bundestages – als dritte Frau und als drittes SPD-Mitglied überhaupt in der Geschichte des Parlaments.