Erste demokratische Verfassung : Die Saat der Freiheit
Der Bundestag würdigt die Nationalversammlung in der Paulskirche vor 175 Jahren. Aus ihr ging die Paulskirchenverfassung hervor.
Die Frankfurter Paulskirche: Am 18. Mai 1848 versammelten sich dort erstmals die Abgeordneten des ersten gewählten gesamtdeutschen Parlaments.
Wir haben die größte Aufgabe zu erfüllen. Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Deutschland will Eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Volkes, unter Mitwirkung aller seiner Gliederungen." Mit diesen Worten beschrieb Heinrich von Gagern die Aufgabe der Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammentrat und zu deren Präsident von Gagern gewählt wurde. 175 Jahre später würdigten am vergangenen Donnerstag alle Fraktionen des Bundestages diesen ersten Anlauf zur Schaffung eines deutschen Nationalstaates und einer parlamentarischen Demokratie. Die Redner aller Fraktionen zeigten sich zwar über die herausragende Bedeutung der Paulskirchenversammlung als erstes gewähltes, gesamtdeutsches Parlament einig, interpretierten das historische Ereignis jedoch mitunter höchst unterschiedlich.
Auch wenn die von der Nationalversammlung erarbeitete Verfassung letztlich an antidemokratischen Widerständen gescheitert sei, so lehre sie "eindrücklich, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit von Anfang an hart erkämpft werden mussten und dass wir sie heute genauso hart gegen ihre Feinde und Verächter verteidigen müssen" befand die SPD-Abgeordnete Marianne Schieder zum Auftakt der Debatte und bekam dafür Applaus aus den Reihen aller Fraktionen - mit Ausnahme der AfD. Die Frankfurter Paulskirche sei ohne Zweifel "ein maßgeblicher Ort deutscher Demokratiegeschichte". Der Bundestag habe im Juni 2021 die Errichtung der "Stiftung Orte deutscher Demokratiegeschichte" beschlossen, die Bedeutung der Paulskirche und anderer Orte der Demokratiegeschichte tiefer im Bewusstsein der Deutschen zu verankern, führte Schieder an.
Magwas: Paulskirchenverfassung war "Dokument des Forschritts"
In diesem Sinne argumentierte auch Yvonne Magwas (CDU). Die von den rund 800 Abgeordneten der Paulskirchenversammlung erarbeitete Verfassung sei ein "Dokument des Fortschritts" gewesen und die deutsche Geschichte wäre wohl besser verlaufen, wenn "die Saat von Freiheit und Parlamentarismus seinerzeit unmittelbar aufgegangen wäre". Deshalb sei es paradox, dass die Nationalversammlung und die Paulskirchenverfassung lange Zeit "ein Schattendasein gefristet" hätten in Deutschland. Das bekannteste Zitat über die Paulskirche stamme vom amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, der sie als "Wiege der deutschen Demokratie" bezeichnet habe. Leider habe die vor zwei Jahren gegründete "Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte" einen "Stotterstart" hingelegt. "Zum Arbeiten ist sie bis heute noch immer nicht gekommen. Das muss sich dringend und schnellstens ändern", forderte Magwas.
In der Revolution von 1848/49 und in der Paulskirche sei um Einheit und Freiheit gerungen worden, führte Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen) aus. In der heutigen modernen Einwanderungsgesellschaft müssten aber mehr Menschen als vor 175 Jahren "unterschiedlicher Herkunft, Kulturen, Religionen, Erfahrungen und Biografien" Teil dieser Einheit sein. Und zur Freiheit des Wortes, der Presse und der Kunst gehöre heute auch "die Freiheit von Minderheiten, die Freiheit von sexuellen Identitäten", befand Roth. Für ihre Amt bedeute dies, "einem Kulturbegriff zu folgen, der nicht hierarchisch unterteilt zwischen Hochkultur und Popkultur, nicht in Metropole und Provinz, sondern Kultur breit und in der Fläche unterstützt". Der Traum von der Freiheit sei 1848 nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa geträumt worden, führte Roth weiter aus. Er gehöre zur DNA Europas. "Das wissen auch die Gegner Europas ganz genau, allen voran Wladimir Putin. Gegen sie gilt es den Traum von Freiheit zu verteidigen und die Ukraine zu unterstützen - für ihre und auch für unsere Freiheit."
Abgeordnete waren "glühende Patrioten"
Der AfD-Abgeordnete Götz Frömming betonte, alle Abgeordnete "von links bis rechts" der Nationalversammlung von 1848 seien "glühende Patrioten" gewesen. Dies könne man "leider über dieses Parlament, von ganz links bis über die Mitte hinaus, nicht mehr sagen", monierte Frömming. Abgeordnete der Paulskirche wie der Dichter Ernst Moritz Arndt oder der Turnvater Jahn würden im wiedervereinigten Deutschland "vom Sockel gestoßen, die nach ihnen benannten Plätze und Einrichtungen umbenannt, weil sie den politisch korrekten Vorstellungen heutiger Superdemokraten nicht mehr genügen". Dem Liberalen Heinrich von Gagern wäre heute für sein Zitat zur Aufgabenbeschreibung der Nationalversammlung "ein Eintrag im Bericht des Verfassungsschutzes sicher", führte Frömming an.
Der FDP-Parlamentarier Thomas Hacker hielt Frömming entgegen, dem "großen Liberalen Heinrich von Gagern" stehe es zu, auch von einem Liberalen zitiert zu werden. Die Überzeugungen der Einheits- und Freiheitsbewegung von 1848/49, "ihr tiefer Glaube an die Grundrechte, an die Versammlungs- und Pressefreiheit" hätten ihren Weg über die Weimarer Verfassung bis ins Grundgesetz der Bundesrepublik gefunden. Die Frankfurter Paulskirche sei der "Kristallisationskern unserer deutschen Demokratiegeschichte". Sie sei ein Symbol für die Stärke und Widerstandsfähigkeit der deutschen Demokratie und mahne, dass sie "vor denen geschützt werden muss, die sie mit Füßen treten", führte Hacker aus und wies dabei deutlich sichtbar mit der Hand Richtung AfD-Fraktion.
Wissler (Linke) würdig Märzrevolution von 1848
Janine Wissler (Linke) verwies darauf, dass die Nationalversammlung zwar "ein Fortschritt" gewesen sei, "aber eben nicht gleichermaßen für alle Teile der Gesellschaft". Wahlberechtigt zur Nationalversammlung seien lediglich männliche, volljährige und selbstständige Staatsangehörige gewesen, "was auch viele ärmere Männer praktisch ausschloss". Noch höher sei die Hürde für eine Kandidatur gewesen, nur ein Prozent der Abgeordneten sei aus der sogenannten "unterbürgerlichen Schicht" gekommen, "darunter kein einziger Arbeiter". Die starke Fokussierung der Erinnerungspolitik auf die Nationalversammlung verstelle "den Blick auf revolutionäre Frauen und ärmere Teile der Bevölkerung, die die Revolution mittrugen", monierte Wissler. Ohne die Märzrevolution von 1848 wäre die Nationalversammlung aber nicht zustande gekommen.