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Foto: picture alliance / AP / Sergei Karpukhin
Eskalation vor den Augen der Weltöffentlichkeit: Der russische Parlamentssitz unter Beschuss

Russische Verfassungskrise : Fanal am Weißen Haus

Vor 30 Jahren ließ der russische Präsident Boris Jelzin das Parlament beschießen: Um die junge Demokratie zu retten, wie er meinte.

30.09.2023
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Das Weiße Haus in Moskau war in den frühen 1990er Jahren ein Symbol des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des Aufbruchs Russlands in die Demokratie: Hier tagte der noch 1990 in teilfreien Wahlen hervorgegangene Volksdeputiertenkongress, dem im neuen Russland die Rolle des Parlaments zukam. Hier hatten sich im August 1991 die Anhänger der Perestroika verschanzt und Tausende Moskauer Demonstranten versammelt, als sich eine Riege von Betonköpfen im sowjetischen Politbüro gegen den Reformer und Staatschef Michael Gorbatschow stellte und den Ausnahmezustand ausrief. In diesen hitzigen Augusttagen 1991 war zudem Boris Jelzin, ein noch radikalerer Reformer, auf einen Panzer gestiegen und hatte zur Verteidigung der Errungenschaften von Gorbatschows Öffnungskurs aufgerufen und damit einen entscheidenden Anstoß zum Fall einer Dominokette gegeben: Das krachende Scheitern der Putschisten, die Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 und schließlich auch die eigene Wahl zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten des nun in die Unabhängigkeit strebenden Russlands im Sommer 1991.

Zwei Jahre später rückte der markante Bau des Weißen Hauses an der Schleife der Moskwa erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: Am 4. Oktober 1993 ließ Präsident Jelzin den Sitz des Parlaments unter Granatenbeschuss nehmen, Flammen loderten in den oberen Etagen, schwarzer Rauch schlug aus den Fenstern. CNN berichtete live.

Blockaden der Verfassungsorgane

Mit dem Fanal endete eine Monate andauernde Blockade zwischen den beiden direkt gewählten Verfassungsorganen Parlament und Präsident: Eine Zeit der "Doppelherrschaft," in der das Reformerlager um Jelzin im Kreml das größte Land der Welt mit einer "Schocktherapie" auf Marktwirtschaft trimmen wollte und ein ebenso von nationalistischen wie kommunistischen Kräften dominiertes Parlament auf der anderen genau dies verhindern wollte. Mit dem Fanal am Weißen Haus kam aber auch eine Verfassung der "Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" ans Ende, die noch aus dem Jahr 1978 stammte und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland in Kraft geblieben war. Eine gewichtige Perestroika-Neuerung war die weithin als demokratisch akzeptierte Wahl des Parlaments 1990, bestehend aus den zwei Gliedern des jährlich zusammenkommenden Volksdeputiertenkongresses und des kleineren, häufiger tagenden Obersten Sowjets.

Eigentlich hatte dieses Parlament Jelzin mit weitreichenden Vollmachten für seinen ökonomischen Reformkurs ausgestattet und den ebenso marktwirtschaftsbegeisterten wie unbeirrbaren Premierminister Jegor Gaidar als Premierminister bestätigt. Jelzins Regierung schuf zwischen 1991 und 1993 rasch Fakten: Einst staatlich festgelegte Preise für Produktions- und Konsumgüter wurden in großer Zahl über Nacht freigegeben, ein Privatisierungsprogramm für das industrielle Herz der einstigen Sowjetgroßmacht aufgelegt. Die Folge war eine veritable Rubelkrise, eine rasende Inflation, die Einkommen und Rücklagen eines großen Teils der Bevölkerung auffraß, während auf den Straßen der Städte das Recht des Stärkeren einzog und eine winzige Schicht findiger Funktionäre und Werksdirektoren als "Biznesmen" zu bisher ungeahntem Reichtum kam.


„Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“
Wiktor Tschernomyrdin, Russischer Premierminister von 1992 bis 1998

Soziale Verheerungen nach Reformen

Schon bald zeigte sich, dass viele der Volksdeputierten angesichts der wachsenden sozialen Verheerungen im Land nicht mehr mitzogen. Im Dezember 1992 ließ der Oberste Sowjet Jelzins Reformerpremier Gaidar durchfallen. Jelzin seinerseits ergriff die Initiative zu einem Referendum, in dem er sich im Frühjahr 1993 seinen Kurs von einer knappen Mehrheit von 56 Prozent bestätigen ließ. Außerdem berief er am Parlament vorbei eine Verfassungskonferenz ein, die im Juli einen neuen Verfassungsentwurf vorlegte. Im Kongress marginalisierte eine lautstarke Koalition aus Nationalisten und Kommunisten die verbliebenen Jelzin-Unterstützer, das Parlament bekräftigte zum Beispiel mit einem Beschluss den Anspruch Russlands auf die Hafenstadt Sewastopol in der Ukraine.

Am Ende des Sommers 1993 eskalierte der Streit: Jelzin entzog seinem Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi, der sich auf die Seite der Volksdeputierten geschlagen hatte, erst die Befugnisse und setzte ihn dann vor die Tür, was nicht nur Ruzkoi als Verfassungsbruch wertete, sondern auch die Volksdeputierten und das russische Verfassungsgericht.

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Gegenspieler des Präsidenten: Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow (links) und Jelzins Vize Alexander

Jelzin setzt zum Befreiungsschlag an

Am 21. September entschloss sich Jelzin zu einem radikalen Schritt. Mit dem berühmt gewordenen Dekret 1.400 erklärte der Präsident den gesetzgebenden Kongress der Volksdeputierten und den Obersten Sowjet kurzerhand für aufgelöst. Viele im Reformerlager, auch in der russischen Intelligenzija und bei den Verteidigern des Perestroika-Erbes, empfanden das mit guten Gründen als einen Befreiungsschlag und Akt der Selbstbehauptung der jungen russischen Demokratie. Die Volksdeputierten und ihre Anhänger sahen in Jelzins Dekret mit ebenso guten Gründen den Versuch eines Staatsstreichs. Die Jelzin-Gegner mit dem Parlamentspräsidenten Ruslan Chasbulatow an der Spitze verbarrikadierten sich im Weißen Haus. Sie erklärten Jelzins Erlass für verfassungswidrig, setzten ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn durch und vereidigten den geschassten Ruzkoi als amtierenden Präsidenten. Sie konnten sich dabei auf die Verfassung berufen. Aber es war auch klar, dass dieser Mantel aus sowjetischer Zeit im neuen Russland fadenscheinig geworden war und das politische Schwergewicht Jelzin diesen Mantel immer mehr als Zwangsjacke wahrnahm.

Aufruf zum Sturm auf den Kreml

Weniger klar war, ob sich Armee und Sicherheitsdienste an die Seite des politischen Entfesselungskünstlers im Kreml stellen würden - oder aber an die Seite des früheren Armeegenerals und Vizepräsidenten Ruzkoi. Als die Volksdeputierten loyale bewaffnete Kräfte zu Besetzung der Moskauer Stadtverwaltung und des Fernsehzentrums in Ostankino aufforderten, als Chasbulatow gar zum Sturm auf den Kreml aufrief, um den "Kriminellen und Usurpator Jelzin" abzuführen, war diese Frage entschieden. Jelzin konnte die Panzer auffahren und den Widerstand des Parlaments unter dem Granatenbeschuss der Militärs ersticken lassen. 187 Menschen starben nach offiziellen Angaben, mehr als 400 wurden verletzt. Anführer der Jelzin-Gegner wurden verhaftet, ihre Parteien verboten. Er habe einen Bürgerkrieg abwenden müssen, so lautete Jelzins Rechtfertigung für das blutigste Geschehen auf den Straßen Moskaus seit der Oktoberrevolution von 1917.

Die Verfassung, für die sich 57 Prozent der Wähler, aber nur 31 Prozent der Wahlberechtigten im Dezember 1993 aussprachen, definierte Russland erstmals in seiner Geschichte als demokratischen Rechtsstaat und sah einen Grundrechtskatalog vor. Mit ihrer Fokussierung auf die alles überragende Rolle eines Präsidenten, der ohne Vizepräsident auskommt und Vetos des Parlaments nicht mehr fürchten muss, legte diese Verfassung aber auch den Grundstein für die Machtvertikale und die vom Kreml "gelenkte Demokratie", das Abgleiten Russlands in die Autokratie. Jelzin wollte bis in die letzten Winkel des weiten Landes durchregieren, ins Werk gesetzt wurde das aber erst durch seinen Nachfolger Wladimir Putin.

Russlands berühmtester politischer Gefangener, der Jurist und Oppositionelle Alexej Nawalny, hält die "Einführung eines Präsidialsystems mit einer enormen Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten - so wie Boris Jelzins Team es vorgeschlagen hatte" - für einen "monströsen Fehler". Russland habe damals die historische Chance verpasst, der autoritären Versuchung zu entkommen, schrieb Nawalny vor einem Jahr in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine". Doch "einem guten Kerl viel Macht zu geben, erschien damals vernünftig".

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Präsident Boris Jelzin rechtfertigt am Morgen des 4. Oktober 1993 in einer Fernsehrede an die Nation die Gewaltanwendung gegen die Putschisten.

Totalitäres Signal

Auch die in Moskau geborene Schriftstellerin Masha Gessen mag in der Figur Jelzins nichts Totalitäres erkennen, macht aber fatale Folgen für die politische Kultur in Russland aus. „Was aber in Moskau 1993 passierte, diese Antwort der Regierung auf Konflikt, der Einsatz von Gewalt, war ein totalitäres Signal, das als solches von der Gesellschaft verstanden wurde.“

Heute drohen in den Propaganda-Talkshows des staatlich gelenkten russischen Fernsehens ehemalige und amtierende Duma-Abgeordnete unverhohlen mit dem Einsatz von Atomwaffen gegen die Ukraine und andere Länder. Es ist die offene Huldigung eines Kults der Stärke, die Angst einflößen und Russland „Respekt“ verschaffen soll. Und womöglich, so kann man Nawalny und Gessen verstehen, ein Nachhall der Versäumnisse des Jahres 1993, in der Jelzin sich eine Verfassung auf den Leib schneidern ließ, die das Parlament als Störfaktor für die gewünschte Demokratisierung missverstand. 

Auf dem Reformpremier Gaidar folgte 1992 bis 1998 übrigens der pragmatischere Wiktor Tschernomyrdin, der einst letzter sowjetischer Minister für die Gasindustrie war. Von ihm sind eine Reihe sogenannter „Chernomyrdinka“ bekannt, die als geflügelte Worte in die russische Sprache Eingang gefunden haben. Sein berühmtester Satz erscheint heute wie ein Menetekel der russischen Jelzin-Jahre: „Wir wollten das Beste, aber es kam wie immer.“