Afghanistan-Untersuchungsausschuss : Machtwort aus dem Kanzleramt blieb aus
Die Umstände des Truppenabzugs erforscht seit einem Jahr ein Untersuchungsausschuss. Dabei rückt die zurückhaltende Rolle des Kanzleramts immer mehr in den Fokus.
August 2021: Am Flughafen Kabul spielen sich chaotische Szenen ab, nachdem die Taliban die afghanische Hauptstadt erobert haben. Obwohl das Ende der internationalen Mission in Afghanistan schon Monate zuvor beschlossen wurde, ziehen die Truppen überstürzt ab. Es kommt zu tumultartigen Zuständen, die Evakuierung des deutschen Personals und der afghanischen Ortskräfte verläuft schleppend, viele bleiben zurück. Wer ist dafür verantwortlich? Und welche Konsequenzen können daraus gezogen werden? Das sind Fragen, mit denen sich seit September 2022 ein Untersuchungsausschuss des Bundestages beschäftigt.
Das Gremium unter Leitung von Ralf Stegner (SPD) hat in den vergangenen Monaten unzählige Schriftstücke, die von Ministerien und Behörden zur Verfügung gestellt wurden, gesichtet und afghanische Ortskräfte sowie Soldaten und Beamte, die für den Rückzug verantwortlich waren, befragt. Die mühsame Kleinarbeit ist die Voraussetzung dafür, das damals politisch verantwortliche Personal später mit den gewonnenen Erkenntnissen konfrontieren zu können. Eine zentrale Erkenntnis hat sich für den Obmann der SPD-Fraktion im Ausschuss, Jörg Nürnberger, schon herauskristallisiert: Vor und während des Abzugs hat eine starke politische Führung in Berlin offenbar gefehlt, besonders das Bundeskanzleramt unter der damaligen Regierungschefin Angela Merkel (CDU) agierte auffallend passiv. „Politische Führung? Fehlanzeige“, kommentiert Nürnberger. „Die Kanzlerin hätte Afghanistan viel früher zur Chefinnensache machen und sich persönlich einschalten müssen.“ Der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, Thomas Erndl (CSU), warnte dagegen vergangene Woche in einem Pressegespräch vor voreiligen Urteilen. „Das alles ist nur ein Zwischenstand. Die großen Schlüsse und Bewertungen kommen dann, wenn wir die Detailarbeit weitermachen und die damals politisch Verantwortlichen mit im Boot haben.“
Merkel versuchte, Modalitäten des Doha-Abkommenns nachträglich zu verbessern
Allerdings hat auch die Befragung des zuständigen Referatsleiters im Kanzleramt bestätigt, dass dieses sich weitestgehend zurückgehalten hat. Er selbst habe, sagte er aus, regelmäßig an den Sitzungen der Staatssekretärsrunde der beteiligten Ministerien teilgenommen. Doch weder Merkel, noch Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hätten ihm Anweisungen gegeben. „In der Regel müssen wir koordinieren und zusammenführen, um eine kohärente Politik zu machen.“ In diesem Fall sei es darum gegangen, einfach präsent zu sein.
Gänzlich passiv war Merkel allerdings nicht. Im direkten Gespräch mit der US-Regierung hatte sie im Jahr 2020 versucht, die Modalitäten des im Februar ausgehandelten Doha-Abkommens nachträglich zu verbessern. Zwischen den USA und den radikalislamischen Taliban geschlossen, regelte es unter Ausschluss der Regierung in Kabul den Rückzug der internationalen Truppen und innerafghanische Friedensverhandlungen. Es sei ein „außergewöhnliches“ Vorgehen in der Nato gewesen, dass die US-Diplomaten die Verbündeten über den Inhalt des Abkommens lange im Dunkeln gelassen hätten, berichtete im Oktober 2022 der ehemalige Referent des Auswärtigen Amtes (AA) bei der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Nato dem Untersuchungsausschuss. Die damalige Bundesregierung habe einen „konditionierten Abzug“ befürwortet und dabei vor allem auf eine innerafghanische Lösung gedrängt, allerdings erfolglos. So scheint die Passivität des Kanzleramtes eher bei der Koordinierung zwischen den Bundesministerien ein Problem gewesen zu sein. Mehrere Zeugen gaben zu Protokoll, wie widersprüchlich die Meinungen und Interessen teilweise waren. Viele hätten sich ein Machtwort aus dem Kanzleramt gewünscht.
Zeugen: Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches überraschend
Erschwert wurde ein koordiniertes Vorgehen durch Fehleinschätzungen der Lage vor Ort. Fast alle Zeugen berichteten, die Geschwindigkeit des Taliban-Vormarsches habe sie überrascht. Der Bundesnachrichtendienst (BND) hatte der afghanischen Regierung nach dem Truppenabzug noch zwei Jahre gegeben. Ein Grund für die Grünen-Obfrau im Ausschuss, Sara Nanni, dem Dienst handwerkliche Fehler zu attestieren. Auch sei dessen Zugang zu relevanten Kreisen nicht ausreichend gewesen, kritisiert sie.
Ralf Stegner unterstreicht einen weiteren Punkt: „Deutschland hat sich auf die militärische und nachrichtendienstliche Stärke Washingtons verlassen.“ Die Qualität der Aufklärung in den Provinzen habe mit dem Rückzug der USA jedoch rapide abgenommen. Der Bundesregierung war den Zeugenaussagen zufolge ab 2020 klar, dass die afghanische Regierung in ihrer damaligen Form nicht mehr lange bestehen und die afghanische Armee den militärischen Druck der Taliban nicht dauerhaft standhalten würde. Dass es am Ende so schnell gehen würde, hat jedoch alle überrascht. Das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) rechneten außerdem damit, dass sich nach Ende der militärischen Mission eine zivile Mission anschließen würde. Eine Annahme, die offenbar maßgeblich zu den Problemen bei der Evakuierung der Ortskräfte führte.
Der Abzug sei von langer Hand geplant gewesen, berichtete Brigadegeneral Ansgar Meyer im Februar bei seiner Befragung. Doch die dafür zuständigen Soldaten hätten lange Zeit keine klaren Befehle erhalten, man habe die Pläne andauernd der neuen Lage anpassen müssen. Der endgültige Abzugsbefehl sei erst im April 2021 gekommen. Die Bundeswehr hat trotzdem vorbildlich agiert: Sie hat es geschafft, alle Soldaten und das militärische Gerät unversehrt und vollständig nach Deutschland zurückzuholen und auch ihre Ortskräfte aus dem Land zu holen. In Absprache mit anderen Ressorts organisierte sie deren Evakuierung mit eigenen Kapazitäten.
Sorge um negative Signalwirkung
Andere Ressorts hatten dagegen mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Beispielsweise das Auswärtige Amt: Nach dem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul in 2017 arbeiteten die deutschen Diplomaten vor Ort mit rigoros verschlankten Strukturen. So war die Visaabteilung ganz geschlossen. Der deutsche Botschafter in Kabul, Axel Zeidler, sagte den Abgeordneten, er habe sich bereits im November 2020 Sorgen um die Sicherheit des Botschaftspersonals gemacht und darauf gedrängt, frühzeitig Evakuierungspläne vorzubereiten. Doch das AA wollte die Botschaft nicht schließen. Dies hätte eine negative Signalwirkung gehabt, betonten die Diplomaten im Zeugenstand. Befürchtet wurde, es könne zu einer Art Demoralisierung der afghanischen Bevölkerung führen, würden die Ortskräfte massenhaft außer Landes gebracht.
Im Entwicklungsministerium, wo man mit einer neuen, zivilen Mission rechnete, sprach man sich ebenfalls gegen eine Evakuierung der Ortskräfte aus. Helfer müssten auch in Krisensituationen vor Ort sein, gab ein BMZ-Mitarbeiter zu Protokoll. Uneins waren sich die Ministerien auch über die Aufnahmeprozedur für die Ortskräfte. Das dafür vorgesehene und üblicherweise sehr langwierige Ortskräfteverfahren (OKV), das die Evakuierung gefährdeter Ortskräfte bei deutschen Auslandsmissionen regelt, erwies sich nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 als nicht krisentauglich, denn es dauert mehrere Jahre, bis eine Ortskraft im Zuge des OKV ausfliegen kann.
AA und Bundesverteidigungsministerium plädierten daher dafür, das Verfahren zu vereinfachen. Da es in Kabul nicht möglich war, gefährdete Ortskräfte mit deutschen Visa auszustatten, schlug das Außenamt „Visa on Arrival“ vor – die Ausstellung von Einreisevisa an der deutschen Grenze. Außerdem wurde über Listenverfahren diskutiert, mit denen die Sicherheitsprüfung größtenteils nach Deutschland verlegt worden wäre, sowie über Charterflüge, um die Ortskräfte auszufliegen. Nichts davon wurde umgesetzt.
Bedenken im Innenministerium
Vor allem das Bundesinnenministerium (BMI) blockierte Alternativen zum OKV. Weil, wie der SPD-Abgeordnete Nürnberger vermutet, es „im Innenministerium von Horst Seehofer (CSU) den klaren politischen Wunsch gab, Migration nach Deutschland zu begrenzen“? Die damals zuständigen Beamten des BMI haben diesen Verdacht im Ausschuss verneint. Sie hätten die Pflicht, auf die Einhaltung der Gesetze zu drängen, sagte eine Beamtin, und das OKV sei nun mal ein auf Einzelfallprüfung beruhendes Verfahren. Nach Absicht von Nürnberger wurden damit unnötige bürokratische Hürden aufgebaut. „So entstand der Eindruck, wir hätten unsere Ortskräfte im Stich gelassen.“ Nach der parlamentarischen Sommerpause wird sich der Ausschuss weiter mit dem OKV beschäftigen. Im Laufe des Jahres wird er schließlich damit beginnen, die politisch Verantwortlichen zu befragen. Dann wird es auch um die Frage gehen, ob der Bundestag ausreichend unterrichtet wurde. Das Ergebnis seiner Arbeit will der Untersuchungsausschuss im Frühjahr 2025 vorlegen.
Der Autor berichtet seit September 2022 für „Das Parlament“ aus den Sitzungen des 1. Untersuchungsausschusses.