Bundestag untersucht Afghanistan-Einsatz : Wie konnte die Mission in einem solchen Desaster enden?
Zwei Gremien sollen den Einsatz in Afghanistan und dessen chaotisches Ende aufklären. In den kommenden Monaten werden sie dazu zahlreiche Zeugen anhören.
Nachdem US-Präsident Joe Biden in Juli 2021 den Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan befahl, fielen die Städte und Provinzen dort wie Domino-Steine in die Hände von Taliban-Kämpfern. Es sah aus, als ob die Truppen der Zentralregierung kaum Widerstand leisteten. Doch während die Islamisten sich Tag für Tag der Hauptstadt Kabul näherten, reagierte die damalige Bundesregierung gelassen. Der Aufmarsch der Taliban sei kein Grund für Panik, hieß es. Vor allem Kabul werde gut verteidigt und könne nicht einfach eingenommen werden.
Am 14. August standen die Gotteskrieger vor den Toren der Stadt. Schon am nächsten Tag war der Kampf entschieden. Der gewählte Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, flüchtete ins Exil. Taliban-Kämpfer drangen ohne Widerstand in die Hauptstadt ein und eroberten seinen Amtssitz.
Ausreisewilige drängen sich am 21. August 2021 vor dem Flughafen in Kabul(linkes Bild). Wer es in ein Flugzeug geschafft hatte, wurde unter anderem von der Bundeswehr ins benachbarte Taschkent (Usbekistan) geflogen (rechts).
Bereits Tage zuvor hatten sich deutsche Diplomaten an die Bundesregierung gewandt und die dramatische Sicherheitslage geschildert. Sie baten darum, die Botschaft evakuieren zu können. Aber das Auswärtige Amt zögerte. Nur aus eigener Initiative und mit Hilfe der US-Militärs konnte sich das deutsche Botschaftspersonal in den relativ sicheren Flughafen retten, um von dort aus mit US-Militärmaschinen nach Doha (Katar) evakuiert zu werden.
In Kabul brach Panik aus
Währenddessen brach in Kabul Panik aus. Mehrere Zehntausend Menschen belagerten den internationalen Flughafen, der von US-Truppen gesichert worden war. Sie wollten ausgeflogen werden. Die USA brachten in den folgenden zwei Wochen mehrere zehntausend Afghanen aus dem Land. Die Bundesregierung reagierte auch hier mit Verzögerung: Erst drei Tage nach dem Einmarsch der Taliban flog ein Transportflugzeug der Bundeswehr die ersten Deutschen ins benachbarte Usbekistan. Am Bord waren nur sieben Menschen.
Deutsche, die als zivile Experten in Afghanistan eingesetzt waren, aber auch Deutsch-Afghanen, telefonierten hastig mit ihren Vorgesetzten und Familien, baten um Hilfe. Wenigen wurde tatsächlich geholfen, obwohl sich inzwischen auch Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr am Flughafen Kabul befanden. Für sie war dies der gefährlichste Einsatz in den 20 Jahren des Afghanistan-Krieges.
Einsatz hat 59 Soldaten der Bundeswehr das Leben gekostet
Das deutsche Publikum verfolgte im Fernsehen die Bilder aus Kabul mit Entsetzen. Niemand konnte verstehen, wie die Afghanistan-Mission, die 59 Bundeswehrsoldaten das Leben und dem deutschen Steuerzahler über 17 Milliarden Euro kostete, in einem solchen Desaster enden konnte. Klären soll das nun auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Bundestag. Ihm gehören jeweils drei Abgeordnete von SPD und CDU/CSU, zwei Abgeordnete der Grünen und der FDP sowie jeweils ein Abgeordneter von AfD und Linkspartei an, geleitet wird er vom SPD-Abgeordneten Ralf Stegner. Das gesamte deutsche Engagement in Afghanistan seit 2001 und die daraus resultierenden Lehren für künftige Einsätze soll außerdem eine Enquetekommission unter Leitung von Michael Müller (SPD) untersuchen (20/2570).
Der Ausschuss wird zahlreiche Zeugen anhören. Dazu gehören laut Stegner sehr wahrscheinlich Mitglieder der Vorgänger-Bundesregierung: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Ex-Außenminister Heiko Maaß (SPD), die ehemalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und der damalige Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gerd Müller (CSU).
Um die Hintergründe zu konstruieren, müssen auch die Nachrichtendienste Auskunft geben und das dürfte für den Ausschuss die schwierigste Aufgabe werden. Denn viele Informationen unterliegen der Geheimhaltungspflicht. Man müsse mit Fingerspitzengefühl vorgehen und abwägen, meint Stegner. Im Gespräch mit dieser Zeitung betonen zudem viele Ausschussmitglieder, sie wollten sich bemühen, dass der Prozess möglichst transparent gestaltet werde.
FDP: Werden chronologisch arbeiten
Das Gremium werde chronologisch arbeiten, erklärt Ann-Verouschka Julisch (FDP). Im September würden in einem ersten Schritt die Sachverständigen-Anhörungen stattfinden, um herauszufinden, "wie sich die Lage dargestellt hat, als das Doha-Abkommen abgeschlossen wurde". Von den USA und den Taliban im Februar 2020 in Katar unterzeichnet, sollte es den stufenweisen US-Truppenabzug einleiten und den Weg zu innerafghanischen Friedensgesprächen ebnen.
Nach den Anhörungen, so Julisch, werde der Ausschuss sich ein Bild darüber machen, was wer wann gewusst und vorbereitet oder unterlassen habe. Außerdem soll geklärt werden, wie die deutschen Behörden an den betreffenden Tagen mit den zivilen Einsatzkräften sowie den afghanischen Ortskräften umgegangen sind. "Mein primäres Ziel ist", sagt Jurisch, "dass wir in der Zukunft besser und krisenfester werden, dass so etwas nicht mehr passiert".
Späte Evakuierung der Ortskräfte steht im Fokus
Dabei steht die unzureichende Evakuierung der Ortskräfte im Fokus. Die Bundesregierung hatte festgelegt, dass nur diejenigen ausgeflogen werden, die in den vorangegangenen zwei Jahren für eine deutsche Organisation tätig waren. Dabei waren auch die Ortskräfte, die schon vorher für die Deutschen gearbeitet haben, unter Taliban-Herrschaft gefährdet. Auch bei den Familienangehörigen blockierte Berlin: Nur die Kernfamilie hieß es, also Mann, Frau und minderjährige Kinder, durfte mitkommen. Dass afghanische Kernfamilien größer sind als deutsche Familien und auch die volljährigen Töchter und Söhne der Ex-Mitarbeiter keinerlei Chancen haben unter den Taliban, spielte für die deutsche Bürokratie zunächst keine Rolle. Tausende Ortskräfte und ihre Angehörigen leben daher noch heute unter schwierigsten Bedingungen in Afghanistan, viele müssen sich verstecken.
Um die Hintergründe zu konstruieren, müssen auch die Nachrichtendienste Auskunft geben.
Es gibt jedoch auch positive Beispiele. Bereits eine Woche nach dem Fall Kabuls brachten die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) und die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) ihre Mitarbeiter in Sicherheit. Mit Hilfe des Auswärtigen Amtes, internationaler Netzwerke und Kontakte hätten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über den Landweg nach Pakistan ausreisen können, sagt der FES-Vorsitzende und ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz.
Ministerien machen sich gegenseitig Vorwürfe
Dass viele Ortskräfte dieses Glück nicht hatten, sorgt bis heute für Streit zwischen den beteiligten Ministerien. Das AA habe die Namen aus den Listen anderer Ministerien einfach ohne Rückfrage gestrichen, lautet ein Vorwurf. Ein anderer richtet sich an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Es habe den Mitarbeitern der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Geld angeboten, wenn sie keinen Anspruch auf Ausreise erheben würden.
Um diese und andere Fragen zu klären, hat der Untersuchungsausschuss Ralf Stegner zufolge nicht mehr als zwei Jahre Zeit. Die Arbeit müsse noch in dieser Legislaturperiode und lange genug vor der nächsten Bundestagswahl beendet werden. Eine besondere Situation begünstigt seiner Ansicht nach die Arbeit: Da keiner der politisch Verantwortlichen mehr im Amt sei, werde die Untersuchung vermutlich reibungslos verlaufen.
Der Autor war lange Korrespondent in Kabul und arbeitet heute als freier Journalist in Berlin.