Zukunftskonferenz : Alles kann, nichts muss
In Straßburg beraten Bürger und Politiker über die Zukunft der EU. Zuvor konnten sich Bürger online über ihre Vorstellungen zur Entwicklung der Union austauschen.
Sarah fordert ein europäisches Pfandsystem, Bengt eine gemeinsame Armee und Pierre die Entwicklung einer einheitlichen EU-Sprache. Seit einem halben Jahr können EU-Einwohner ihre Vorstellungen zur Entwicklung der Union auf einer Onlineplattform miteinander teilen. Denn bei der "Konferenz zur Zukunft Europas" stehen sie mit ihren Ideen im Vordergrund. Der Startschuss für dieses europäische Projekt fiel am 9. Mai, dem Europatag. Mit Streichquartett, Europahymne und virtuellen Gästen aus der gesamten EU wurde die Zukunftskonferenz in Straßburg feierlich eröffnet. In den kommenden Monaten wird dort eine Versammlung aus Bürgern und Politikern über die Vorschläge beraten.
Unstrittig ist das Projekt nicht
"Letztendlich müssen wir alle gemeinsam diese Zukunft zusammen schreiben", erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron, einer der treibenden Kräfte hinter dem Projekt. Von gemeinsamen Visionen, neuen Wegen und nötigen Reformen sprach er in seiner Eröffnungsrede. Allerdings ist die Zukunftskonferenz unter den 27 Mitgliedstaaten nicht unstrittig. Zähe Verhandlungen um Aufbau und Leitung der Konferenz sowie ihr genaues Ziel verzögerten den Start.
Besonders bei der Frage, wie weitreichend die Vorschläge der Zukunftskonferenz sein sollten, gehen die Auffassungen der einzelnen Regierungen weit auseinander. Während einige Länder Vertragsänderungen kategorisch ausschließen, zeigen sich andere Mitgliedstaaten wie Deutschland offen dafür. "Unter den Fraktionen im Bundestag herrscht die überwiegende Meinung, dass wir auch institutionelle Fragen besprechen sollten", sagt Gunther Krichbaum (CDU), Vorsitzender des Europaausschusses im Deutschen Bundestag. Zusammen mit seinem Ausschusskollegen Axel Schäfer (SPD) sitzt er als Abgesandter des Bundestages in der Plenarversammlung der Zukunftskonferenz.
Zwar kann sie aufgrund des geltenden EU-Rechts keine Verträge ändern, dennoch kann die Konferenz laut Krichbaum ein wichtiger Anstoß für Veränderungen sein, auch in reformkritischen Ländern. Immerhin befasst sie sich mit Vorschlägen aus der gesamten EU. Auch für die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), liegt der Mehrwert des Projekts darin, "zu erfahren, wo der größte Veränderungsbedarf gesehen wird", wie sie dem Deutschlandfunk sagte.
Die Bürger sitzen mit am Tisch
Worin dieser Veränderungsbedarf gesehen wird, das entscheiden die Unions-Bürger maßgeblich mit. Im Gegensatz zu früheren Entscheidungsprozessen, in denen sie nur indirekt durch gewählte Abgeordnete Einfluss auf Entscheidungen nehmen konnten, sitzen sie bei der Zukunftskonferenz mit am Tisch. "Wir haben dadurch eine größere Beteiligungsmöglichkeit für Bürger, als es jemals der Fall war", sagt Schäfer. Auch welche Themen es auf die Agenda der Konferenz schaffen, liegt mit in ihren Händen.
Noch vor dem offiziellen Start des EU-Projekts ist am 19. April die Plattform zur Zukunftskonferenz online gegangen. Unter https://futureu.europa.eu/ sind alle EU-Bürger aufgerufen, ihre Vorstellungen und Ideen, aber auch Sorgen und Ängste mit Blick auf die Zukunft der EU einzubringen. "Wir wollen die europäischen Bürgerinnen und Bürger in ihrer ganzen Vielfalt hören: Junge und alte Menschen, Leute, die in Städten wohnen, und solche vom Land", sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Jeder Vorschlag wird automatisch in die 24 Amtssprachen der EU übersetzt und ermöglicht einen Dialog über Sprach- und Ländergrenzen hinweg.
Bei der Eröffnung der Konferenz zur Zukunft Europas waren am 9. Mai in Straßburg Bürger aus der gesamten Europäischen Union virtuell zugeschaltet.
Laut einem ersten EU-Zwischenbericht zur Plattform befassen sich die meisten Ideen mit den Themen Klimawandel und Demokratie in Europa. Insgesamt sind bis Anfang Oktober mehr als 8.000 Ideen und 14.000 Kommentare zusammengekommen. Bei rund 450 Millionen EU-Bürgern sei die aktuelle Beteiligung etwas mau, findet Krichbaum. Auch bei den Veranstaltungen, die rund um die Zukunftskonferenz in analoger und digitaler Form stattfinden, sei die Beteiligung ausbaufähig. So haben bisher knapp 130.000 Menschen an einer solchen teilgenommen. "Bei vielen Bürgern und Politikern ist noch gar nicht angekommen, dass wir mit der Zukunftskonferenz gestartet sind", vermutet Schäfer. Dabei sei eine starke Beteiligung wichtig, um die europäische Debatte in die Breite der Gesellschaft zu bringen.
Mindestens eine Frau und ein Mann pro Land
Mit der Zukunftskonferenz will die EU näher an die Bürger rücken. So sind auch 800 zufällig ausgewählte EU-Bürger Teil des Projekts. In vier Bürgerforen sollen sie Empfehlungen für die Plenarversammlung der Konferenz entwickeln. Die Teilnehmer sollen dabei die Vielfältigkeit der EU widerspiegeln. Aus jedem Mitgliedstaat sind mindestens eine Frau und ein Mann vertreten. Ein Drittel der Personen ist zwischen 16 und 25 Jahren alt. Auch sozioökonomische Faktoren wie das Bildungsniveau und der Wohnort spielten bei der Auswahl eine Rolle. Betreut durch Experten, Übersetzer und Moderatoren diskutieren die Teilnehmer der vier Foren an jeweils drei Wochenenden über die Zukunft der EU. Von Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit über Klimawandel bis hin zu Migration reicht dabei die Themenpalette.
Jedes Bürgerforum schickt 20 Vertreter zur großen Plenarversammlung der Zukunftskonferenz nach Straßburg. War bei der ersten Sitzung der Plenarversammlung Mitte Juni nur ein Teil der Teilnehmenden vor Ort, wird das gesamte Plenum am 22. Oktober erstmals aufeinandertreffen. Bürger aus den europäischen und nationalen Foren werden dann mit Vertretern aus den nationalen Parlamenten, dem Europäischen Parlament, der Zivilgesellschaft sowie den EU-Institutionen über ihre Vorschläge diskutieren und Handlungsanweisungen formulieren
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Die Zukunftskonferenz einigt sich auf Reformpaket. Die Konferenz hat unter Beteiligung von Bürgern ein Jahr lang Konzepte für EU-Reformen erarbeitet
Während die konstituierende Sitzung noch recht starr abgelaufen sei, hofft Krichbaum für den weiteren Verlauf der Sitzungen auf die Möglichkeit zum stärkeren Austausch: "Die offene Debatte und der freie Meinungsaustausch müssen das Herzstück der Konferenz sein."
Geplant ist ein Abschlussbericht bereits für das Frühjahr 2022. Ob dieser Zeitplan so beibehalten wird, sehen Schäfer und Krichbaum skeptisch. Anstatt von vorneherein starr an einem Termin festzuhalten, wolle man mit einer gewissen Offenheit in den Prozess gehen, betont Krichbaum. Die Erwartungen sind groß an dieses Novum der Europäischen Union, das die Weichen für die Zukunft des europäischen Projekts stellen soll.