Abwanderung aus Serbien : Bedroht durch den Exodus
Nicht nur serbische Ärzte suchen das Weite Richtung EU. Auch Elektriker packen ihre Koffer. Das stellt die serbische Infrastruktur zunehmend vor Existenzprobleme.
Es ist gut bekannt, dass Deutschland zum zweiten Serbien geworden ist." So charakterisiert das Portal "Mein Novi Sad" in Serbiens zweitgrößter Stadt die Massenabwanderung medizinischer Fachkräfte aus diesem Balkanland. In der Tat kehren jährlich bis zu 1.000 Ärzte ihrer Heimat den Rücken, um im Ausland ihr Glück zu machen. Doppelt so hoch soll die Zahl der Krankenpfleger und -schwestern sein. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Die Behörden in Belgrad geben keine Auskunft, weil sie die dramatische Lage im Gesundheitswesen verdecken wollen, mutmaßen Kritiker. Die von der Regierung kontrollierten Medien - das ist der übergroße Teil der Zeitungen, TV- und Radiosender - steuert dagegen: Immer wieder werden negative Erfahrungen abgewanderter Serben veröffentlicht, deren Scheitern im Ausland als Warnung für eventuelle Nachahmer abgefasst ist.
Leere Bänke in Belgrad: Der massenhaften Abwanderung von Fachkräften kann die serbische Regierung bisher wenig entgegensetzen.
Allgemeinmediziner und Fachärzte fehlen
Doch die regelrechte Flucht des medizinischen Personals ist im Alltag allgegenwärtig. Patienten können in staatlichen Gesundheitszentren nicht mehr behandelt werden, weil Allgemeinmediziner ebenso fehlen wie Radiologen, Chirurgen, Internisten, Kinderärzte, Gynäkologen oder Zahnärzte. Zum Beispiel sollte auf 30.000 Einwohner ein HNO-Facharzt kommen, heißt es in einer Untersuchung in der Hauptstadt Belgrad. Demgegenüber müsse in der Realität ein HNO-Experte 50.000 Menschen versorgen. Dabei sieht es in der Hauptstadt immer noch deutlich besser aus als in der Provinz.
Die andere Seite des Medizinerexodus ist in der Helios Uniklinik in Wuppertal zu besichtigen, die seit 2018 examinierte Pflegekräfte aus Serbien beschäftigt - und sehr positive Erfahrungen damit gemacht hat. Schon vor der Abreise nach Deutschland werden die Angeworbenen bei der Bewältigung der bürokratischen Hindernisse unterstützt. In Wuppertal erhalten die Neuen weitere Hilfen mit Deutschkursen, bei der Wohnungssuche oder der Vorbereitung auf die deutschen Examina.
Boom privater Agenturen
Mit Beginn der Coronakrise ist Serbien aus dem Anwerbeabkommen "Triple Win" mit Deutschland für Pflegekräfte ausgestiegen, weil die heimische Medizin-Infrastruktur zusammenzubrechen droht. Doch auch wenn es keine staatlich kanalisierte Vermittlung ins Ausland mehr gibt, haben private Agenturen längst die Führung auf diesem Gebiet übernommen. Ihnen wird oft vorgeworfen, die Bewerber auszunehmen. Der Aufruf des serbischen Staates an seine Landsleute in Westeuropa, vorübergehend in die Heimat zurückzukehren und bei der Bewältigung der Corona-Epidemie zu helfen, ging weitgehend ins Leere.
Von den 180.000 ausländischen Pflegekräften in Deutschland stammten 2021 rund 36.000 aus dem Westbalkan. Eine Verdreifachung in wenigen Jahren. Und dann gibt es noch den Graubereich in den privaten Haushalten. Dort arbeiten schätzungsweise 290.000 Menschen aus dem Ausland, häufig aus Ost- und Südosteuropa.
Braindrain in Serbien weitet sich aus
Es sind aber längst nicht mehr nur Mediziner, die das Weite suchen. Inzwischen packen auch Bauarbeiter, Elektriker und Gabelstapelfahrer ihre Koffer in Richtung EU. In den vergangenen Monaten sind wegen der Auswanderung auch LKW-Fahrer Mangelware in Serbien. Nach Schätzungen heimischer Zeitungen fehlen zurzeit mehr als 6.000 Fahrer. Im November sorgte das Angebot eines verzweifelten Belgrader Unternehmers für Aufsehen. Der bot für einen Installateur sage und schreibe 2.000 Euro Monatslohn plus kostenloser Wohnung. Das Durchschnittseinkommen beträgt in Serbien rund 500 Euro, wobei die besser bezahlten Stellen im staatlichen Bereich angesiedelt sind. Im Privatsektor fallen die Einkommen oft deutlich niedriger aus und selbst deren Auszahlung verzögert sich nicht selten um Monate.
Abwanderung aus Serbien
Gesundheitswesen: Pro Jahr wandern rund 1.000 Ärzte und doppelt so viele Pflegekräfte ab. Das Land hat knapp sieben Millionen Einwohner.
Ursachen: Die Menschen gehen nicht nur wegen niedriger Löhne, sondern flüchten auch vor allgegenwärtiger Korruption.
Westbalkanregelung: Diese besagt: Wer ein „verbindliches Arbeitsplatzangebot“ hat, kann, unabhängig von der Ausbildung, nach Deutschland kommen.
Im letzten Jahr stammten ein Drittel der Menschen, die in Deutschland eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten hatten, aus dem Westlichen Balkan. Denn ähnlich wie in Serbien ist die Lage auch im benachbarten Nordmazedonien oder in Bosnien-Herzegowina für den weitaus größten Teil der Bevölkerung trostlos.
Westbalkanregelung verschärft die Situation seit 2016
Die Abwanderung wird befeuert durch die in Deutschland seit 2016 geltende "Westbalkanregelung": Unabhängig von Ausbildung oder Berufserfahrung kann jeder aus der Region nach Deutschland kommen, wenn er ein "verbindliches Arbeitsplatzangebot" von einem deutschen Unternehmen besitzt. Der Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes ist aber deutlich größer als die höchstens 25.000 Menschen, die im Jahr auf diesem Weg aus Südosteuropa kommen können. Allein im Pflegebereich wird in den nächsten Jahren mit 150.000 zusätzlichen Kräften gerechnet.
Das ruft private Initiativen auf den Plan. Knut Hofmayer betreibt eine gut gehende Praxis für Physiotherapie in Ostfriesland. Nachdem er seit zwei Jahren seine offenen Stellen nicht besetzen kann, macht er sich selbst auf die Suche. Gemeinsam mit Matthias Schulte, der eine Physiotherapie-Praxis im Schwarzwald besitzt, haben sie jetzt in der Hauptstadt Pristina angedockt. Sie zielen auf die Gruppe von rund 90 Absolventen der dortigen Schule für Physiotherapeuten. Viele von ihnen hätten kaum Chancen, eine Arbeitsstelle zu finden, erklärt Hofmayer. Einige Jugendliche aus dieser Gruppe sollen bereits in Pristina Deutsch lernen. In Deutschland selbst ist jede Unterstützung bei Behörden, Wohnungssuche und beruflicher Qualifizierung geplant. Am Ende könnten die Kosovaren an ihren neuen Wirkungsstätten vier bis fünf Mal so viel verdienen wie die 400 bis 600 Euro in ihrer Heimat.
Gründe für Abwanderung liegen nicht allein in Verdienstmöglichkeiten
Die "Sehnsuchtsländer" der Arbeitsemigranten vom Balkan sind Deutschland, aber auch Österreich, Skandinavien oder die Schweiz. Die Gründe für die Massenabwanderung liegen nicht allein in den um ein Vielfaches höheren Verdiensten. Viele Auswanderer setzen die regelbasierte Gesellschaft in Deutschland und seinen Nachbarländern an die erste Stelle. Demgegenüber hält die allgegenwärtige Korruption ihre Heimat fest im Griff: Eine Beschäftigung sei nur über eine Mitgliedschaft in der dominierenden Regierungspartei möglich, wird geklagt. Die politisch Genehmen machten Karriere, die Fähigen hätten das Nachsehen, heißt es. Wer politisch aufmuckt, muss sich nach diesen Darstellungen auf Schikanen am Arbeitsplatz bis zur Kündigung einstellen. Hoch angerechnet wird dem Ausland auch, dass die neuen Arbeitgeber auf die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter Wert legen.
Bei einer repräsentativen Umfrage im letzten Jahr unter serbischen Jugendlichen gab die Hälfte der 15- bis 30-Jährigen an, bei nächster Gelegenheit das Land verlassen zu wollen. Ganz oben auf der Liste der Gründe wurde ein "würdevolles Leben" genannt (32 Prozent). Zwar ist auch ein "höherer Lebensstandard" (24 Prozent) wichtig, aber auch die dort erwartete "bessere öffentliche Verwaltung" (11 Prozent) und "größere Freiheiten" (acht Prozent) werden genannt. In Bosnien-Herzegowina liebäugeln drei Viertel aller Erwachsenen - quer durch alle Altersklassen und Berufe - mit einer Beschäftigung im Ausland, ergeben regelmäßig die Umfragen.
Alternative: Slowenien oder Kroatien
Welchen Druck die problematischen Zustände in der Heimat auf die Beschäftigten und noch mehr auf die Arbeitslosen ausüben, zeigte zuletzt der Fall der serbischen Krankenschwester Dobrila. Sie habe 34 Jahre im Krankenhaus gearbeitet und sich entschlossen, die ihr noch verbleibenden Jahre bis zur Rente in Deutschland anzuheuern, erzählte sie dem Belgrader Portal Nova. Sie sei als Gewerkschaftsfunktionärin von ihren Arbeitgebern jahrelang drangsaliert worden und hoffe, in Deutschland in sieben Jahren so viel für ihre Rente zu sparen, wie in den letzten 34 Jahren in ihrer Heimat. Ihr Mann erhalte nach 37 Jahren Arbeit eine Invalidenrente von 16.600 Dinaren (140 Euro). Inzwischen arbeite sie in der Nähe von Mannheim in einem Krankenhaus und verdiene 3.200 Euro gegenüber umgerechnet 470 Euro zuletzt in Serbien. Ihre Arbeitsbedingungen beschreibt sie gegenüber der Lage in Serbien in nahezu hymnischen Worten.
Wer sich das Deutschlernen sparen und lieber in der Nähe bleiben will, wandert in die EU-Nachbarstaaten Slowenien oder Kroatien aus. So werden Lücken gefüllt, die durch Emigration auch dort entstanden sind: Nach Daten der Volkszählung des vergangenen Jahres ist die Einwohnerzahl Kroatiens seit dem EU-Beitritt 2013 um zehn Prozent auf 3,9 Millionen zurückgegangen. Die meisten zogen nach Deutschland um.
Der Autor leitete lange das Regionalbüro der Deutschen Presse-Agentur für Südosteuropa und lehrt heute an deutschen Universitäten Politikwissenschaft und Journalistik.