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Erinnerung an Stalins Hungerterror : Bundestag wertet Holodomor als Völkermord

Mit großer Mehrheit verurteilt der Bundestag die Hungersnot vor 90 Jahren in der Ukraine als Völkermord. Für Moskau ist das eine antirussische Provokation.

05.12.2022
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Als "sehr wichtiges Signal für viele andere Länder der Welt, dass es dem russischen Revanchismus nicht gelingen wird, die Geschichte umzuschreiben", hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Resolution des Bundestags zur Hungersnot (Holodomor) in der Ukraine bezeichnet.

Die Entscheidung der deutschen Abgeordneten, die von der Sowjetführung vor 90 Jahren verursachte Hungerkatastrophe mit Millionen Toten als Völkermord einzustufen, sei eine "Entscheidung für Gerechtigkeit, für Wahrheit", sagte er Mitte vergangener Woche in einer Videobotschaft.

Bundestag wertet Holodomor als ein politisches Verbrechen

Die Abgeordneten hatten zuvor - bei Enthaltung von Linken und AfD - einen gemeinsamen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU verabschiedet, in dem sie die Hungersnot als "politisches Verbrechen" bezeichnen. Die betroffenen Regionen seien abgeriegelt worden, "um die Flucht der Hungernden in die Städte und den Transport von Lebensmitteln in die Regionen zu verhindern."

Ziel der sowjetischen Führung sei die Kontrolle und Unterdrückung der Bäuerinnen und Bauer sowie der ukrainischen Lebensweise, Sprache und Kultur gewesen. "Damit liegt aus heutiger Perspektive eine historisch-politische Einordnung als Völkermord nahe", schreiben die Abgeordneten. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die Erinnerung an die Opfer und die Verbreitung von Wissen über das historische Ereignis weiter zu unterstützen.

Weltweit haben 16 Staaten die Hungersnot von 1932/33 als Genozid anerkannt

Die Debatte wurde in der Ukraine, die seit Jahren für eine Anerkennung des Holodomors als Völkermord in Parlamentsresolutionen wirbt, aufmerksam verfolgt. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, und sein Vorgänger, der heutige Vize-Außenminister in Kiew, Andrij Melnyk, waren persönlich anwesend. Weltweit haben bereits 16 Staaten die Hungersnot von 1932/33 als Genozid anerkannt, darunter Polen, Ungarn, Litauen und die USA.


„Die politisch-historische Einordnung des Holodomors als Völkermord ist darum nicht nur Mahnung, sondern auch Auftrag an uns alle.“
Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen)

Russland wirft Deutschland Beschönigung der Nazi-Vergangenheit vor

Russland, das eine solche Einordnung kategorisch ablehnt und argumentiert, dem großen Hunger in der Sowjetunion seien Anfang der dreißiger Jahre nicht nur Ukrainer, sondern auch Russen, Kasachen, Wolgadeutsche und Angehörige anderer Völker zum Opfer gefallen, wertete den Bundestagsbeschluss als "antirussische Provokation". Er sei der Versuch Deutschlands, seine Nazi-Vergangenheit beschönigen zu wollen, teilte das russische Außenministerium am Donnerstag mit.

Der Initiator des Antrags und Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe im Bundestag, Robin Wagener (Grüne), schilderte im Plenum eindrucksvoll den "Horror", der sich hinter dem Begriff "Holodomor" verberge: Historische Überlieferungen zeigten "Bilder von Kindern, die im Klassenzimmer sitzend zusammenbrachen und verstarben", Erzählungen über Mütter, "die Söhne und Töchter präventiv töteten, damit diese den Hunger nicht länger aushalten mussten, damit sie das wenige Brot nicht teilen mussten".

Verbrechen systematisch verleugnet und tabuisiert

Seit jeher würden diese Verbrechen durch das russische Regime "systematisch verleugnet und tabuisiert", und es bleibe der Wunsch von Präsident Wladimir Putin, die Ukraine und ihre Menschen vollständig zu unterwerfen. "Die politisch-historische Einordnung des Holodomors als Völkermord ist darum nicht nur Mahnung, sondern auch Auftrag an uns alle", stellte Wagener klar. "Es ist unsere Pflicht, diesen Wahnsinn zu stoppen."

"Ja, es sollte das ukrainische Volk vernichtet werden - nichts weniger", urteilte Michael Brand (CDU). Es sei nicht richtig gewesen, dass frühere Initiativen seiner Fraktion im Parlament auch mit Verweis auf Russland nie mitgetragen worden seien.

Deutschland soll nicht noch einmal schuldig werden

Die Deutschen stünden angesichts der Nazi-Verbrechen in der Ukraine in einer besonderen historischen Schuld und Verantwortung gegenüber dem Land. "Nie wieder!" müsse heißen: "Wir dürfen nicht noch einmal schuldig werden. Wenn wir der Ukraine nicht endlich mit allem helfen, was wir tun können, werden wir ein zweites Mal schuldig."

Gabriela Heinrich (SPD) betonte, Deutschland leite aus eigener Vergangenheit eine besondere Verantwortung ab, Menschenrechtsverbrechen innerhalb der internationalen Gemeinschaft kenntlich zu machen und aufzuarbeiten. Ein halbes Jahrhundert lang sei der Holodomor zum Tabu gemacht geworden. Doch die Ukraine habe das nicht vergessen, "und auch wir werden es nicht vergessen".

AfD und Linke sehen neue Einstufung kritisch

Gegen die Einstufung der Verbrechen als Völkermord wandten sich AfD und Linke. Marc Jongen (AfD) zitierte unter anderem die Genozidforscherin Kristin Platt, die gemahnt habe, mit dem Begriff des Genozids oder Völkermords sehr vorsichtig umzugehen.

Jongen warf den Antragstellern eine "starke Parallelisierung und teils ja schon fast eine Ineinssetzung der historischen Ereignisse mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die Ukraine" vor. Die deutsche Politik berausche sich wie üblich "am Hochgefühl ihrer moralischen Überlegenheit".

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Unterscheidung der Rechtsbegriffe

Gregor Gysi (Die Linke) urteilte, Stalin habe sich aus politischen Gründen gegen alle gestellt, "die die terroristische Industrialisierung und Zwangskollektivierung ablehnten, unabhängig von ihrer Nationalität oder Ethnie". Der Europarat habe den Holodomor daher das Menschlichkeitsverbrechen verurteilt, die Bezeichnung als Genozid aber abgelehnt.

Ulrich Lechte (FDP) konterte, gemäß der Definition handle es sich bei einem Völkermord um einen gezielten Versuch, eine Nation zumindest teilweise zu eliminieren. Im Falle des Holodomors ergebe sich die Tötungsabsicht eindeutig aus der Beschlagnahmung von Nahrungsmitteln und der bewussten Blockade der Hungergebiete. Heute nutze Putin Hunger und Kälte erneut als Kriegsmittel. "Doch damit ist schon Stalin vor 90 Jahren gescheitert, und für mich steht zweifelsfrei fest, dass auch Putin scheitern wird."