EU-Erweiterung : Der lange Weg in die EU
Die Westbalkan-Staaten haben nun zwar eine klare Beitrittsperspektive, stehen sich aber oft selbst im Weg - das zeigt etwa der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo.
Beim Westbalkangipfel im Oktober 2021 mussten die sechs Länder noch froh darüber sein, dass die EU-Staaten ihre "Zusage für den Erweiterungsprozess" bekräftigten. Seinerzeit wurde viel darüber spekuliert, ob die Staaten der Region auf ewig im Wartezimmer der Union sitzen bleiben. Vier Monate später überfiel Russland die Ukraine - und die Europäische Union erhob Kiew im Schnellverfahren zum Beitrittskandidaten. Das änderte auch für den Westbalkan die Perspektive. Denn nach Jahren des Kleinklein dachten beide Seiten wieder geostrategisch. Und das konnte nur heißen: Alle Länder in die EU zu bringen.
Einige Reformen stehen noch aus
Seitdem hat sich einiges getan. Im März beschloss der Europäische Rat, mit dem fünften Land Beitrittsverhandlungen aufzunehmen: Bosnien-Herzegowina. Die Entscheidung war nicht unumstritten, weil einige Reformen noch ausstehen, die der Rat an den Kandidatenstatus geknüpft hatte. Allerdings sollte der Schritt die Akteure zu weiteren Fortschritten ermutigen. Durchgesetzt wurde das positive Signal von einer Gruppe südosteuropäischer Staaten, die sich "Freunde des Westbalkans" nennt und von Österreich angeführt wird.
In der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina, Sarajevo, wird das Rathaus in den EU-Farben angestrahlt. Im März hat der Europäische Rat beschlossen, mit dem Land Beitrittsverhandlungen aufzunehmen - eine nicht unumstrittene Entscheidung.
Deutschland und Frankreich haben den Schritt unterstützt. Während Berlin sich schon lange für die Region engagiert, stand Paris auf der Bremse. Das hat sich jedoch seit einer Rede von Präsident Emmanuel Macron im Mai 2023 geändert. Man müsse die EU "so schnell wie möglich erweitern", sagte Macron, um dem russischen Neo-Imperialismus entgegenzutreten.
Allerdings bleiben, trotz Geopolitik, viele praktische Schwierigkeiten. Schließlich müssen alle Beitrittskandidaten die Kopenhagener Kriterien von 1993 erfüllen. Sie müssen politisch stabil, demokratisch und rechtsstaatlich sein. Und sie müssen über eine funktionsfähige Marktwirtschaft verfügen, die dem Wettbewerbsdruck im EU-Binnenmarkt standhält. In den Verhandlungen, die in Kapitel gegliedert sind, müssen sie den gesamten Rechtsbestand der Union übernehmen. Dabei gilt weiter der Grundsatz, dass jedes Land nach seiner individuellen Leistung beurteilt wird und es keine Abkürzungen geben soll.
Eskalation nach Beitrittsantrag
Oftmals stehen sich die Länder jedoch selbst im Weg, wie der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo zeigt. Die Regierung in Pristina reichte Ende 2022 als letzter Staat der Region ihren Beitrittsantrag in Brüssel ein. Darauf folgte jedoch eine von Pristina mitverschuldete Eskalation, nachdem im April 2023 in vier mehrheitlich von Serben bewohnten Gemeinden im Norden Kosovos ethnische Albaner zu Bürgermeistern gewählt worden waren. Als die Regierung in Pristina deren Amtsantritt durchsetzen wollte, kam es zu Gewalt; Serbien verlegte Truppen an die Grenze. Im September griffen dann militante Serben die Ordnungskräfte an.
Unter diesen Umständen waren Fortschritte in den Verhandlungen mit beiden Ländern schwer vorstellbar. Dabei hat Serbien viele Jahre Vorsprung, weil es schon seit 2014 über Beitrittskapitel verhandelt. Offiziell heißt es stets, dass die wechselseitige politische Anerkennung keine Vorbedingung für einen EU-Beitritt ist. Doch tatsächlich muss das Verhältnis beider Seiten geklärt sein, bevor Belgrad beitreten könnte. In Brüssel will man nicht den Fehler von 2004 wiederholen, als nur der griechische Teil Zyperns der Union beitrat, was die politischen Verhandlungen auf der Insel enorm erschwerte.
Auch Montenegro stand sich lange Zeit selbst im Weg. Das kleine Land verhandelt schon seit 2012 über seinen Beitritt und ist am weitesten fortgeschritten. Bis 2020 wurden alle 33 Verhandlungskapitel eröffnet und drei vorläufig geschlossen. Danach geschah aber lange nichts, weil sich proeuropäische und proserbische Kräfte im Land wechselseitig blockierten. Erst seit der Bildung einer neuen, von einer Mehrheit getragenen Regierung im Oktober 2023 sind Fortschritte wieder möglich.
Verhandlungen hatten sich lange verzögert
Die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien wurden Mitte 2022 eröffnet. Vorausgegangen waren lange Verzögerungen. So bekam Skopje schon 2005 den Kandidatenstatus, doch folgten ein Streit über den Staatsnamen mit Griechenland und ein tiefgreifender Identitätskonflikt mit Bulgarien, der immer noch schwelt. Albanien ist seit 2014 Kandidat und war von den Konflikten indirekt betroffen. Die EU wollte beide Länder nicht entkoppeln, weil Nordmazedonien besser auf die Verhandlungen vorbereitet war als Albanien. Mit beiden Ländern wurden noch keine Beitrittskapitel eröffnet.
Auf alle Westbalkanstaaten wird eine neue Vorgehensweise angewendet, die die EU-Kommission 2020 beschloss. Dabei werden Verhandlungskapitel zu thematischen Clustern zusammengefasst. Außerdem stehen rechtsstaatliche Reformen noch stärker im Mittelpunkt - das sind stets die schwierigsten Kapitel. Jeder Beitrittskandidat muss die Unabhängigkeit seiner Justiz sicherstellen, faire Gerichtsverfahren garantieren, die Grundrechte schützen und wirksam gegen Korruption vorgehen (Kapitel 23). Außerdem muss der EU-Besitzstand zum gemeinsamen Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts übernommen werden. (Kapitel 24). Das betrifft unter anderem Grenzkontrollen, die Zusammenarbeit von Polizei und Zoll, die Bekämpfung organisierter Kriminalität, und die Regeln für Migration und Asyl.
Aktuelle Bewertung durch die EU-Kommission
Wie weit der Weg der Länder hier noch ist, zeigt eine interne Bewertung der EU-Kommission von Anfang November 2023 zu beiden Kapiteln. Auf einer Skala von eins (keine Vorbereitung) bis fünf (Gute Fortschritte) bekamen Montenegro, Nordmazedonien und Albanien die höchsten Noten: jeweils 2,5 - zwischen "etwas Vorbereitung" und "mäßig vorbereitet". Dahinter folgten Serbien (2,2) sowie Bosnien-Herzegowina und Kosovo (jeweils 1,5).
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Reformauflagen für Serbien und Kosovo
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Der Autor ist politischer Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Brüssel.