EU-Beitritt der Ukraine : Neue Hoffnung für das kriegsgeplagte Land
Die EU hat sich lange schwergetan mit einer Mitgliedschaft der Ukraine. Der russische Überfall hat alles verändert.
Wer auf die drei Jahrzehnte währende Geschichte der Beziehungen zwischen EU und Ukraine zurückblickt, erkennt ein deutliches Muster: Kiew fordert schneller engere Beziehungen, Brüssel bremst.
1994 unterzeichneten die Ukraine und die EU ein erstes Partnerschaftsabkommen, was jedoch kaum politische Substanz enthielt. Denn ab Ende der 1990er Jahre war Europa vor allem damit beschäftigt, den Beitritt der baltischen Staaten und osteuropäischer Länder wie Polen und Ungarn zu verhandeln.
Zum zweiten Jahrestag des Beginns des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine protestieren pro-ukrainische Demonstranten vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
Größter Befürworter eines ukrainischen EU-Beitritts: Polen
Einen ersten Schub erhielt die ukrainische Beitrittsperspektive nach der Orangen Revolution und der Wahl des prowestlichen Viktor Juschtschenko zum Präsidenten 2005. Dieser forderte von Brüssel eine klare Perspektive für einen EU-Beitritt. 2005 erklärte der damalige EU-Kommissionspräsident José Barroso zwar, die Zukunft der Ukraine liege in der EU. Doch nach der großen Erweiterungsrunde von 2004 zeigte sich die EU nicht bereit zur schnellen Aufnahme weiterer Länder - stattdessen verhandelte man mit der Ukraine über Freihandel und Visafreiheit. Polen ist seit dem eigenen Beitritt der größte Befürworter eines ukrainischen EU-Beitritts: 2005 reichte das Land gemeinsam mit der Ukraine die Bewerbung für die Ausrichtung der UEFA-Fußball-EM 2012 ein - in der Erinnerung vieler Ukrainer ein Ereignis, das bei ihnen das Zugehörigkeitsgefühl zu Europa stärkte.
2008 führte die EU auf Initiative Schwedens und Polens das Instrument der "Östlichen Partnerschaft" (ÖP) mit den drei Südkaukasusstaaten und mit Belarus, Moldau und der Ukraine ein. Aus Sicht der Initiatoren sollte die ÖP diese Länder an die EU heranführen, aus Sicht vieler westeuropäischer Länder jedoch wurde sie eher als Ersatz für eine EU-Mitgliedschaft betrachtet.
An den Beziehungen zur EU entzündet sich die "Maidan-Revolution"
Im November 2013 entzündete sich an den Beziehungen zur EU die sogenannte "Maidan-Revolution": Überraschend gab der 2010 gewählte Präsident Wiktor Janukowitsch kurz vor dem entscheidenden EU-Gipfel bekannt, das über Jahre ausgehandelte Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben. Janukowitsch sah die Beziehungen zu Russland gefährdet. Es folgte eine blutige Revolution, die mit der Flucht Janukowitschs endete. Wenige Wochen darauf annektierte Russland die Halbinsel Krim. Mit der neuen, prowestlichen Regierung der Ukraine unterschrieb die EU schließlich das Assoziierungsabkommen.
Waren die Ukrainer noch 2013 gespalten in der Frage, ob man sich Russland oder der EU annähern sollte, änderte sich dies nach dem Jahr 2014 deutlich: Für eine Annäherung an Russland tritt heute nur noch eine Minderheit der Ukrainer ein.
Der Kampf gegen Korruption wird als ungenügend betrachtet
Unter dem neuen Präsidenten Petro Poroschenko trat zwar 2017 ein Abkommen über eine visafreie Einreise der Ukrainer in die EU in Kraft, die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen rückte jedoch kaum näher, unter anderem, weil die Reformbemühungen der neuen ukrainischen Regierung beim Kampf gegen Korruption als ungenügend betrachtet werden.
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Im Juni stehen zwei Gipfeltreffen zum Ukraine-Krieg auf der Agenda: In Berlin geht es um den Wiederaufbau, in der Schweiz um eine Friedenslösung.
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Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte alles: Präsident Wolodymyr Selenskyj stellte vier Tage nach Kriegsbeginn einen EU-Mitgliedsantrag, begleitet von der Forderung nach einer "neuen speziellen Prozedur", die eine schnellere Aufnahme ermöglichen sollte. Diese gewährte Brüssel zwar nicht, jedoch erhielt das Land schon drei Monate später - gemeinsam mit Moldau - den Kandidatenstatus, begleitet von einer Liste mit sieben umfangreichen Reformprojekten, die innerhalb von zehn Jahren vollzogen sein müssten.
Im November 2023 beschlossen die EU-Mitgliedsländer schließlich die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, nachdem die EU-Kommission festgestellt hatte, die Ukraine habe bereits mehr als 90 Prozent der Auflagen erfüllt, unter anderem bei der Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Auswahl des hohen Justizrates, beim Antikorruptionsprogramm und dem Kampf gegen die Monopolisierung.
Konkret ist noch wenig geschehen
Konkret ist seitdem trotz Drucks aus Kiew jedoch wenig geschehen: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vertröstete die Ukrainer jüngst, die EU werde womöglich "zu Sommerbeginn bereit" zur Aufnahme von Verhandlungen sein. Geopolitisch stehen die Zeichen seit dem russischen Überfall zwar auf eine schnellere Erweiterung der EU - das betrifft auch Georgien, Moldau und die Staaten des Westbalkans. Doch auf der praktischen Ebene gibt es noch viele Fragezeichen: Im Bereich der Korruption hat die Ukraine sich seit 2013 zwar stetig verbessert, steht aber im internationalen Vergleich noch immer schlecht da - auf Platz 116 von 180 im "Corruption Perception Index" von Transparency International.
Völlig ungeklärt ist zudem die Frage der territorialen Integrität der Ukraine. Mit der Aufnahme der Republik Zypern im Jahr 2004, die aber de facto nur den südlichen Teil der Insel kontrolliert, hat die EU schon einen ungelösten territorialen Konflikt, der bis heute immer wieder zu Problemen mit der Türkei führt.
Die Kostenfrage ist nicht unwichtig
Und nicht zuletzt ist da die Kostenfrage einer Aufnahme der Ukraine, in der das Durchschnittseinkommen heute bei 4.000 Euro liegt, 6.000 Euro weniger als im EU-Schlusslicht Bulgarien: Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft würden nach den jetzt geltenden Regeln im Falle einer Vollmitgliedschaft der Ukraine 17 Prozent des EU-Haushalts in die Ukraine abfließen, vor allem Agrarsubventionen und Mittel aus dem Kohäsionsfonds, der darauf zielt, Einkommensunterschiede zwischen den Ländern auszugleichen.
Auch die Beziehung der EU-Bürger zur Ukraine hat sich im übrigen seit dem 24. Februar 2022 geändert. Laut einer Umfrage vom April 2024 ist die Ukraine unter allen Beitrittskandidaten das Land, dessen Beitritt die EU-Bürger am ehesten unterstützen: 45 Prozent sind dafür, 35 Prozent gegen einen Beitritt.
Der Autor arbeitet als freier Journalist in Berlin.