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Gastkommentare : EU-Tunesien-Deal als Vorbild? Ein Pro und Contra

Taugt das Migrationsabkommen zwischen der Europäischen Union und Tunesien als Vorbild? Ja, sagt Thomas Gutschker. Nein, findet Christian Jakob.

14.08.2023
True 2024-02-26T09:48:35.3600Z
3 Min

Pro

Beiderseitige Vorteile

Foto: Helmut Fricke
Thomas Gutschker
arbeitet bei der "Frankfurter Allgemeine Zeitung"
Foto: Helmut Fricke

In Europa hat man sich daran gewöhnt, dass die Staaten Nordafrikas Durchgangsstationen für Migranten geworden sind, die von dort die andere Seite des Mittelmeers erreichen wollen. Tatsächlich ist dieser irreguläre Strom aber Ausdruck eines Staatsversagens, denn er wird von kriminellen Netzwerken organisiert, die staatliche Strukturen unterminieren, angefangen bei der Küstenwache.

Es ist deshalb keineswegs unmoralisch, wenn die Europäische Union Abkommen mit den betroffenen Regierungen schließt, die dieses Geschäft eindämmen sollen - zumal die allermeisten Menschen, die über diese Route kommen, keinerlei Aussicht auf Schutz haben. Der Deal mit Tunesien vom Juli taugt dafür durchaus als Vorbild. Die EU rüstet den Grenzschutz des Landes auf, mit Schnellbooten und Überwachungsdrohnen. Das hat schon in Libyen funktioniert: Im von der Regierung in Tripolis kontrollierten Küstenstreifen legen kaum noch Schlepperboote ab. Die Zusammenarbeit mit Tunis geht freilich weiter als jene mit Tripolis. Sie eröffnet einen schmalen Pfad für legale Migration nach Europa. Vor allem aber schließt sie langfristige Investitionen in Strom- und Datenleitungen ein, die beide Seiten des Mittelmeers vernetzen werden. Und sie bietet der Regierung erhebliche Budgethilfe an, die an Reformen geknüpft bleibt.

Das fragile Land könnte so stabilisiert und eine Kooperation zum beiderseitigen Vorteil begründet werden. Tunesien erzeugt grünen Strom zu einem Preis, der weit unter dem günstigsten Niveau in Europa liegt. Auch eine engere Zusammenarbeit mit Ägypten und Marokko wäre im Sinne einer guten Nachbarschaftspolitik. Je enger das Netz am Mittelmeer geknüpft wird, desto schwerer wird es für Schlepper, durch die Maschen zu schlüpfen.

Contra

Auftrag zur Gewalt

Foto: Krzysztof Macikowski
Christian Jakob
arbeitet bei "die tageszeitung", Berlin
Foto: Krzysztof Macikowski

Ob das Abkommen als Vorbild für ähnliche Arrangements mit Ländern in der Region taugt, hängt davon ab, was man will. Die EU erhofft sich vor allem weniger Flüchtlinge in Italien, weil Tunesien sie vorher stoppt. Auf Dauer wird sich dies nicht erfüllen.

Denn das jüngste Abkommen versucht, Zusammenarbeit bei der Migrationskontrolle wiederzubeleben, die vor allem Italien schon zu Zeiten des Diktators Ben Ali mit Tunesien etabliert hat. Sie lief, aus EU-Sicht, mal besser, mal schlechter - je nach Migrationsdruck und politischer Stimmung im Land. Zuletzt ließ Tunis immer mehr Menschen durch. So sah die EU sich nun genötigt, mehr Geld auf den Tisch zu legen, auf dass Tunis den Küstenzugang dicht hält. Dieses Muster - mehr Migrationsdruck, schwächer werdende Umsetzung, neue Routen, neue Forderungen - ist typisch für die Abkommen dieser Art. Die enthaltenen Hilfen der EU zur Abschiebung aufgehaltener Transitmigranten und die Zahl neuer Visa für Partnerstaaten sind stets eng begrenzt. Der Stopp irregulärer Migration kollidiert so mit den Interessen der Transitstaaten, die oft auch Herkunftsstaaten sind. Je mehr Menschen sie aufhalten, desto mehr bleiben bei ihnen hängen - und auch die eigene Bevölkerung wird unzufrieden.

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Wollte man aber keinen Flüchtlingsstopp um jeden Preis, sondern eine am Menschenrecht orientierte Außenpolitik, ist das Abkommen erst recht kein Vorbild. Es führt zur Entrechtung Flüchtender und massenhaften, tödlichen Abschiebungen in die Wüste und den Folterstaat Libyen. Es ist Gewalt im europäischen Auftrag, die im Innern der EU nicht akzeptiert würde, in der nordafrikanischen Wüste, einem Niemandsland der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber hingenommen wird.