Kriegsgräberfürsorge : Graben bis zum letzten Toten
Zwischen 12.000 und 15.000 Kriegtote exhumieren die Umbetter des Volksbundes im Jahr. Ein Besuch in Litauen, wo im September der einmillionste Soldat geborgen wurde.
Ein Wald bei Kelme in Litauen, 200 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Vilnius. Etwa 40 Menschen haben sich um ein improvisiertes Holzkreuz versammelt: Anwohner aus dem nahegelegenen Dorf, Journalisten, Mitarbeiter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Im Erdreich liegen die Knochen eines deutschen Soldaten, gefallen im Oktober 1944. Seine Erkennungsmarke haben Experten im Vorfeld mit einer Sonde identifiziert. Auf ein Zeichen des Grabungsleiters rammen drei Männer Spaten und Hacken in den Waldboden. Der Tote, der hier liegt, ist laut Volksbund der einmillionste, den die Mitarbeiter der Organisation seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs im ehemaligen Ostblock exhumieren.
Mitarbeiter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge bei der symbolischen Ausgrabung des einmillionsten deutschen Kriegstoten seit 1992 in einem Waldstück in Litauen.
Einer der Männer, die das Grab öffnen, ist Mantas Aranauskas. Er trägt einen Zopf, sein T-Shirt ist verschwitzt. "Das klingt vielleicht komisch", sagt er, "aber ich mache diese Arbeit sehr gern." Aranauskas ist 28 Jahre alt, Historiker. "Ich sehe es als meine Aufgabe, die Toten auf einem ruhigen Friedhof bei ihren Kameraden zu bestatten."
Suche nach den Erkennungsmarken
Nach gut zwei Stunden sind Knochen zu erkennen. Die drei Männer beginnen vorsichtig, die Erde zur Seite zu kratzen. Der Schädel liegt frei, der Mund ist weit aufgerissen. Der Mann hatte gute Zähne, ist wahrscheinlich jung gestorben. Doch neben ihm sind weitere Knochen zu sehen: Hier liegt nicht ein toter Wehrmachtssoldat, in der Grube wurden 1944 drei bestattet. Ihre Schädel sind eingedrückt, ob von Einschüssen oder durch Schläge, wissen die Mitarbeiter des Volksbunds noch nicht.
Die Experten suchen nach den metallenen Erkennungsmarken der anderen Soldaten, in die ihr Regiment, die Mannschaft und ihre Blutgruppe eingraviert sind.Valdemaras Rupsys, Oberbefehlshaber der litauischen Streitkräfte, beobachtet das Geschehen. Er sei zufrieden, dass nach all den Jahren eine würdige Bestattung möglich sei. "Ich stelle mir vor, wie jung sie waren, voller Energie, voller Träume und Ideen."
Rupsys zieht Parallelen zu den litauischen Partisanen, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegen die Besatzung durch die Sowjetunion gekämpft haben und dabei ums Leben gekommen sind. 45 Jahre haben die Litauer um ihre Freiheit gerungen, sind deportiert und ermordet worden. Dieser Freiheitskampf gegen die Macht in Moskau prägt ihre Erinnerungen bis heute. Und angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine ist die Angst vor einer erneuten Kolonialisierung oder gar Besatzung durch Russland neu entfacht.
Die Toten lagen dicht an dicht
Auch in Russland werden Weltkriegstote exhumiert, zum Teil gemeinsam mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (siehe Text unten). Doch dort spielen, neben dem Ansatz der Versöhnung über Kriegsgräbern, noch ganz andere Motive mit, und das schon seit Jahrzehnten, wie ich im Jahr 2001 erfahre. Damals führte mich Jelena Trimerowa, damals Leiterin einer Organisation, die die Exhumierung der Toten in dieser Gegend organisiert, durch einen Wald bei Demjansk im Westen Russlands, wo zwischen 1942 und 1943 eine Kesselschlacht stattfand. "Wo ein Helm liegt, liegt ein Toter", erklärte mir Trimerowa und zeigte auf ein Gebüsch. An Helmen mangelte es dort nicht. Der Wald hatte die Toten ausgeschwitzt und alles, was zu ihnen gehörte: Autositze, Getriebe, Patronenhülsen. "Orion 1940" stand auf einer und "Fallschirmleuchtpatrone Verbrauch bis 30.09.1944".
"Als wir 1989/90 mit der Suche anfingen, haben wir im Frühjahr das trockene Gras abgebrannt, und dann konnten wir alles sehen, Helm, Schädel, Helm, Schädel, Helm, Schädel", erzählte sie. Die Toten hätten dicht an dicht gelegen, offen an der Oberfläche. 350.000 Menschen seien allein hier ums Leben gekommen. "In den bekannten Massengräbern liegen nicht mehr als 100.000 Tote. Das heißt, es müssen noch mindestens 250.000 in den Wäldern und Sümpfen verborgen sein."
Wolfgang Schneiderhan (r.) mit dem litauischen Armeechef am Grab des Soldaten in einem Waldstück bei Kelme in Litauen. Anwohner hatten es bis heute gepflegt.
2001 ist Putin zwar erst kurz an der Macht, aber Krieg führt er trotzdem schon: im eigenen Land, in Tschetschenien. Trimerova kooperierte damals mit dem Volksbund - und sah die Arbeit der Suchtrupps als nützliche Vorbereitung der jungen Männer auf den Einsatz in Tschetschenien. "Hier reden sie mit erfahrenen Soldaten, die an allen heißen Punkten in den letzten Jahren waren. Und es gibt keinen, der danach nicht mehr zur Armee möchte." Sie erzählte von einem Jungen, der hier im Wald die Knochen der Getöteten aus dem Waldboden gekratzt habe und anschließend in Tschetschenien kämpfte. "Ein anderer bereitet sich gerade darauf vor."
Schneiderhan betont wertschätzenden Umgang mit Soldaten
22 Jahre später zeigt Litauens Oberbefehlshaber Rupsys in das offene Grab mit den drei Skeletten: "Diejenigen, die heute entscheiden, müssen wissen, was passiert, wenn man die falschen Entscheidungen trifft. Sie müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein." Herauszuhören ist daraus auch eine leichte Kritik an denen, die nur sehr zögerlich anerkennen, dass der Krieg bereits 2014 nach Europa zurückkehrte. Als sich Russland 2014 die Krim im Handstreich einverleibte und den Krieg im Donbas begann. Im Februar 2024 wird dieser Krieg bereits zehn Jahre dauern.
In den Wald bei Kelme ist auch Wolfgang Schneiderhan gekommen. Er ist General a.D. und Präsident des Volksbundes Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Von 2002 bis 2009 war er Generalinspekteur der Bundeswehr und damit der ranghöchste Soldat der Bundesrepublik Deutschland. Er empfinde am Grab der drei Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg so etwas wie Trauer, sagt er. Befehlshaber müssten für die Soldaten Gefühle haben, die das Risiko im Einsatz auf sich nehmen. "Man muss einen wertschätzenden Umgang pflegen, auch wenn es eine Beziehung von Befehl und Gehorsam ist. Das schließt sich ja nicht aus." Zwar habe er selbst keinen Kampfeinsatz befohlen, "aber ich musste, glaube ich, 32 Mal Angehörigen von Soldaten, die in Afghanistan ums Leben gekommen sind, bei der Beerdigung ins Auge sehen."
Bis heute ist die Erde voll mit Leichen aus den vergangenen Kriegen, sei es auf den Seelower Höhen bei Berlin, sei es rund um Stalingrad, dem heutigen Wolgograd. Die Bundesregierung beauftragte den Volksbund 1954 offiziell, die deutschen Soldatengräber im Ausland zu suchen, die Toten zu bestatten und die Anlagen zu pflegen. Möglich machen das seither mehrere tausend ehrenamtliche und rund 500 hauptberufliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in aller Welt. Seit 1991 hat der Volksbund 331 Friedhöfe des Zweiten Weltkrieges und 188 Anlagen aus dem Ersten Weltkrieg in Ost-, Mittel- und Südosteuropa wieder hergerichtet oder neu angelegt. Rund 990.000 Kriegstote wurden auf 83 Kriegsgräberstätten umgebettet.
In der Ukraine stoßen Soldaten auf Skelette aus dem Zweiten Weltkrieg
Der sowjetische Diktator Stalin ließ nach dem Krieg Bäume auf den einstigen Schlachtfeldern pflanzen. Straßen wurden gebaut, Häuser und Felder bestellt. Dabei gibt es in Russland eine Redensart: Ein Krieg ist erst vorüber, wenn der letzte Tote bestattet ist. Wäre es so, gingen die beiden Weltkriege nie vorbei, denn die Toten, auf denen heute Einkaufszentren stehen, wird niemand mehr bergen. In der Ukraine heben Soldaten derweil Gräben aus, um sich zu schützen - und stoßen dabei oft auf die Skelette ihrer Vorgänger aus dem Zweiten Weltkrieg.
Als im Wald bei Kelme in Litauen die Dunkelheit einbricht, unterbrechen die Mitarbeiter des Volksbundes ihre Arbeit. Sie sichern die Knochen zur Nacht vor Tieren und Grabräubern. Ein Mitarbeiter hält Wache. Die drei Erkennungsmarken haben sie gefunden und gesäubert. Der Volksbund schickt sie an das Bundesarchiv, das die Angehörigen benachrichtigt, sofern es noch welche gibt. Sie entscheiden dann auch, ob der Name ihres Vorfahren veröffentlicht wird. Am nächsten Tag werden die Knochen der drei Soldaten sortiert, in Wannen gelegt und bestattet.
Thomas Franke ist freier Korrespondent für Osteuropa.