Volkstrauertag im Bundestag : Russlands Angriffskrieg wirft alte Fragen in Europa wieder auf
Am diesjährigen Volkstrauertag steht das Gedenken an die Kriegsopfer in der Ukraine im Mittelpunkt. Der Tag bekommt in Europa eine neue Relevanz.
Durch den 1919 gegründeten Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeführt, sollte der Volkstrauertag einst an die Kriegstoten des Ersten Weltkrieges erinnern. Von den Nationalsozialisten zwischenzeitlich zum "Heldenfeiertag" umgedeutet, getragen von Wehrmacht und NSDAP, führte der Volksbund den Volkstrauertag in den 1950er Jahren wieder ein; seither wird er jedes Jahr zwei Wochen vor dem ersten Advent mit bundesweiten Veranstaltungen und einer Gedenkzeremonie im Bundestag begangen.
Gedacht wird seitdem der Opfer von Krieg und Gewalt in aller Welt, in diesem Jahr besonders der Opfer des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, der im Februar 2022 begann. Als Vertreterin des diesjährigen Partnerlandes Schweden wird die Gedenkrede am Sonntag im Plenarsaal des Bundestages von der schwedischen Kronprinzessin Victoria gehalten. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Präsident des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Wolfgang Schneiderhan, werden in der Gedenkstunde, die unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas steht, sprechen.
Schneiderhan: "Es ist nicht vorbei"
Lange schien der Volkstrauertag etwas aus der Zeit gefallen. Doch angesichts des Krieges in der Ukraine und der Drohung Russlands, diesen auf Westeuropa auszuweiten, bekommt er neue Bedeutung. "Wir haben es nicht geschafft, den Rückzug aus der Geschichte der Kriege miteinander zu gehen", bedauert Schneiderhan. Und verknüpft dies mit grundlegenden Fragen, die am Volkstrauertag gestellt werden müssten: "Was bedeutet Krieg? Was bedeutet Missbrauch von Menschen im Krieg? Was bedeutet, was sich Menschen im Krieg gegenseitig antun?" Sein Fazit: "Es ist nicht vorbei."
Weil der Volksbund sich der Versöhnung über den Gräbern der Weltkriege verschrieben hat, ist die Enttäuschung bei Unterstützern und Mitarbeitern groß - viele haben teils jahrelang gemeinsam mit Russen hunderttausende Skelette toter Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen und bestattet. In Russland, sagt Schneiderhan, gebe es ein anderes Verständnis von Gedenkkultur als in Deutschland, "doch beide konnten nebeneinander existieren". Er ist dankbar, "dass wir so viele Millionen Deutsche in russischer Erde beerdigen durften, dass ihre Angehörigen an die Gräber fahren dürfen, um dort zu trauern". Die in Russland verbreitete Auffassung, dass am Krieg Politiker schuld seien und Soldaten nur Befehle ausführten, könne man jedoch nicht mittragen. "Sie sehen sich damit auf der guten Seite. So einfach können wir Deutschen es uns nicht machen."
Während sich die meisten ausländischen Organisationen aus Russland zurückziehen mussten, kann der Volksbund weiterhin dort arbeiten. Schneiderhan vermutet, das dass an der "behutsamen" Art liegt, mit der man den russischen Vertretern begegne. "Wir sind nicht mit dem erhobenen Zeigefinger unterwegs, wir akzeptieren die andere Kultur, andere Einstellungen. Wir belehren nicht, sondern wir zeigen, wie wir das machen und wie dankbar wir dafür sind, dass wir es machen dürfen." Der Volksbund betreut heute im Auftrag der Bundesregierung die Gräber von mehr als 2,8 Millionen Kriegstoten auf 832 Kriegsgräberstätten in 46 Staaten.
Der Autor ist freier Korrespondent für Osteuropa.