Kurz vor der Europawahl : Heftiger Streit über EU-Kurs
Zwei Tage vor der Europawahl in Deutschland haben die Fraktionen im Bundestag über die zukünftige Europapolitik debattiert.
Die Europawahl an diesem Sonntag war am Freitag Thema einer Vereinbarten Debatte zur Europapolitik im Bundestag. Zwei Tage, bevor in Deutschland rund 64,9 Millionen Menschen aufgerufen sind, ein neues EU-Parlament mitzuwählen, ging es vor allem um die Themen und großen Baustellen der Europäischen Union, die die kommende Legislaturperiode prägen werden: um Verteidigung, die Fragen nach einer EU-Erweiterung sowie die Wirtschaftspolitik und um die EU-Führung.
Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine war für die EU eine Zäsur. Im Bundestag ist sich mittlerweile eine Mehrheit darüber einig, dass die EU als eines der größten Friedensprojekte der Geschichte nur dann eine sichere Zukunft hat, wenn sie sich im Notfall auch mit Waffengewalt gegen Gegner wehren kann. Keine gemeinsame Antwort gibt es bislang aber auf die Frage, wie bestehende Defizite im Bereich der Verteidigung beseitigt werden sollen. Während Deutschland vor allem auf Nato-Projekte setzt, will Frankreich mit EU-Geld die europäische Rüstungsindustrie fördern und die EU so auch unabhängiger von den USA machen.
Transparente vor dem EU-Parlament in Straßburg weben für die Stimmabgabe bei der Europawahl vom 6. bis 9. Juni 2024.
Handelsdefizit der EU gegenüber China: 400 Milliarden Euro
Auch das Thema EU-Erweiterung hat durch die russische Invasion in die Ukraine eine neue Bedeutung bekommen. Eine größere EU könnte eine der geopolitischen Antworten auf Russlands Angriffskrieg sein. Zudem besteht zu befürchten, dass Länder mit fehlender Beitrittsperspektive engere Partnerschaften mit den Systemrivalen China oder Russland eingehen könnten. Das gilt vor allem für die Staaten des westlichen Balkans. Insbesondere bei den neueren Beitrittskandidaten Ukraine und Moldau geht es darum, den Menschen dort zu zeigen, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
In der Wirtschaftspolitik richtet sich der Fokus zunehmend auf die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Sorgen bereitet vor allem die Konkurrenz aus China und den USA. Das Handelsdefizit der EU gegenüber China belief sich zuletzt auf fast 400 Milliarden Euro. Hat Europa also den wirtschaftspolitischen Anschluss verschlafen, und wenn ja, warum? Regulierungen, hohe Energiepreise und eine ambitionierte Klimapolitik gelten als Hemmschuh für die EU-Wirtschaft. Nach der Wahl dürften aber auch Maßnahmen gegen unfaire Wettbewerbspraktiken überprüft werden. Die EU untersucht derzeit beispielsweise, inwiefern China seinen Autobauern mit erheblichen staatlichen Subventionen inakzeptable Vorteile auf dem Markt für Elektrofahrzeuge verschafft. Es könnten Strafzölle erhoben werden.
Kritik an von der Leyen
Achim Post (SPD) machte deutlich, wie wichtig die nächsten fünf Jahre für die Staaten Europas sein werden. Vor allem auf den "Gebieten Frieden und Demokratie, Wirtschaft und Klimaziele sowie Demokratie und soziale Zusammenarbeit". Diese Fragen müsse eine neue EU-Kommission beantworten, und das gehe nur, "wenn die demokratischen Parteien zusammenarbeiten". Damit kritisierte er EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) und deren Versuche, in den vergangenen Monaten die Zusammenarbeit mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und deren rechtsextremer Partei Fratelli d'Italia zu verstärken.
Dem schloss sich Ricarda Lang (Grüne) an. Auch sie warnte vor dem Erstarken rechter und rechtsextremer Parteien nach der Europawahl. Den Kurs Ursula von der Leyens, Politikerinnen wie Meloni zu potentiellen Partnern zu machen, nannte Lang "schädlich". Die Grünenchefin forderte stattdessen ein offensives Vorgehen, um Europas Interessen stärker als bisher zu vertreten. "Der Green Deal muss weitergehen, damit die EU wettbewerbsfähig bleibt", sagte Lang. Es sei entscheidend, dass die Transformation der Wirtschaft gelinge.
Union: Bundesregierung hat entscheidenden Anteil an Wettbewerbsschwäche der EU
Gunther Krichbaum (CDU), europapolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, widersprach der Kritik an Ursula von der Leyen vehement. An der aktuellen Wettbewerbsschwäche der EU habe die Bundesregierung einen entscheidenden Anteil. In den vergangenen Jahren sei lediglich ein weiteres Freihandelsabkommen verabschiedet worden. Als Verantwortlichen dafür machte Krichbaum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Ampelkoalitionäre aus. Scholz habe sich gegen die Verabschiedung weiterer Abkommen gestellt.
Tino Chrupalla (AfD) kritisierte, dass auf EU-Ebene alle wichtigen Verträge nicht eingehalten würden - weder der Vertrag von Maastricht noch der von Lissabon, "damit verliert die EU an Glaubwürdigkeit". Er bezeichnete die EU als "dysfunktional" und forderte eine Änderung. Ihm schwebe ein Europa von "Wladiwostok bis Lissabon vor", mit einem "gemeinsamen Wirtschaftsraum" und "Frieden" und "freiem Handel".
Direkt im Anschluss daran sprach Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und nannte die AfD "Alptraum für Deutschland", der die EU "in Trümmern legen will". Die AfD-Spitzenkanditen seien während des Wahlkampfes versteckt worden, weil "sie Marionetten von Peking und Moskau sind". Die AfD propagiere den Austritt Deutschlands aus der EU, "damit wären Kosten in Höhe von 690 Milliarden Euro verbunden und ein Verlust von 2,5 Millionen Arbeitsplätzen", sagte die Liberale. Das Beispiel Großbritannien und dessen Brexit zeige, wohin ein solcher Schritt führe: "Fachkräfte wandern massenhaft ab und damit der Wohlstand". Auch Strack-Zimmermann kritisierte von der Leyen, die zu verantworten habe, "dass die europäische Wirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig ist". Statt immer mehr Bürokratie brauche Europa mehr Freihandel und Technologieoffenheit als Schlüssel für mehr Wachstum und zu mehr Klimaschutz.
Linke: EU muss "wachsende Ungleichheit" begrenzen
Janine Wissler (Linke) kritisierte diesen Kurs. Anstatt "Reiche und Konzerne zu bevorteilen", müsse die EU die "wachsende Ungleichheit" begrenzen, weil diese "eine Gefahr für die Demokratie darstellt". Die Schuldenbremse verhindere Investitionen in die Zukunft.
Amira Mohamed Ali (BSW) erinnerte an die Idee der EU als "Friedensprojekt, in dem die Völker Europas vereinigt sind", das sei die Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Aktuell stehe die EU vor allem für "Aufrüstung", das sei "ein Verrat an der Europäischen Union".