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Entscheidung über Kommissionsspitze Ende Juni : Nach der Wahl ist vor ihrer Wahl

Ob EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihr Amt behält, ist fraglich. Konkurrenten gibt es viele und es gilt zwei Hürden für die zweite Amtszeit zu nehmen.

07.06.2024
True 2024-06-07T14:20:19.7200Z
4 Min

Ursula von der Leyen hat einen aufreibenden Wahlkampf hinter sich: Allein in den letzten zehn Tagen vor der Wahl besuchte die EU-Kommissionspräsidentin Spanien, Bulgarien, Schweden, Finnland, Portugal, Österreich und Deutschland, um für ihre christdemokratische Parteienfamilie EVP zu werben - und indirekt für ihre Wiederwahl als Präsidentin. Den Kampagnen-Marathon beschreibt die Spitzenkandidatin der Europäischen Volksparteien (EVP) als "körperlich sehr anstrengend". Aber durchatmen kann Ursula von der Leyen nach dem Wahlsonntag nicht: Für die Präsidentin geht der Wahlkampf dann erst richtig los. Schafft sie es, sich eine doppelte Mehrheit für eine zweite Amtszeit bis 2029 zu sichern? Die 65-Jährige braucht erst eine Nominierung im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, dann müsste sie die Abstimmung im neugewählten Europäischen Parlament bestehen.

Gewachsene Zweifel und teils offener Unmut bei Regierungschefs

Schlecht stehen die Chancen nicht, versicherten Diplomaten in den letzten Tagen in der Erwartung, dass die EVP stärkste Fraktion im Parlament bleibt. Aber die Zweifel sind in den vergangenen Wochen gewachsen. Da ist ein latenter, mitunter offener Unmut bei einem Teil der Regierungschefs. Einige klagen über von der Leyens Eigenmächtigkeiten, über fehlende Abstimmung vor allem in der Außenpolitik, andere stöhnen über zu viel Regelungseifer oder über das Management, dass die gebürtige Niedersächsin bei der kostspieligen Corona-Impfstoffbeschaffung an den Tag legte.

Foto: picture-alliance/dpa

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen strebt eine zweite Amtszeit an. Dafür muss sie aber mehrere Hürden nehmen, unter anderem braucht sie die absolute Mehrheit des Parlaments.

Der französische Präsident Emmanuel Macron, dem von der Leyen ihren Posten verdankt, geht sichtbar auf Distanz. Das Spitzenamt dürfe nicht "überpolitisiert" ausgeübt werden, mahnt er. Ob Macron nur hoch pokert, um den Preis für seine Unterstützung von der Leyens in die Höhe zu treiben, ist unklar. Im Vorfeld deutete aber auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, dass sein Rückhalt für die deutsche CDU-Frau Grenzen hat. "Wenn die nächste Kommission gebildet wird, darf sie sich im Parlament nicht auf eine Mehrheit stützen, die auch die Unterstützung von Rechtsextremen braucht", sagte Scholz. Trotz solcher Rückschläge gibt sich die Präsidentin zuversichtlich mit dem Hinweis, die Regierungschefs schätzten ihre Erfahrung im Spitzenamt. "Sie wissen, was sie bekommen", meint sie. Dem Argument können Diplomaten in Brüssel einiges abgewinnen, sie sehen von der Leyen deshalb in der Pole-Position. Aber gelaufen sei das Rennen sicher nicht, heißt es unter den Brüsseler Statthaltern wichtiger EU-Staaten. Die Entscheidung dürfte bei einem informellen EU-Gipfeldinner am 17. Juni vorbereitet und beim regulären Gipfeltreffen zehn Tage später offiziell abgesegnet werden.

Von der Leyen braucht die absolute Mehrheit

Auch wenn von der Leyen dort Erfolg hat: Sie - oder jeder andere Kandidat - hat eine zweite Hürde vor sich. Das Parlament muss sie mit absoluter Mehrheit wählen. Schon 2019 erhielt von der Leyen trotz einer deutlichen Mehrheit der sie stützenden Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen nur neun Stimmen mehr als notwendig. Im EU-Parlament gibt es keine festen Koalitionen und keinen Fraktionszwang, Abweichler haben freies Spiel. Von der Leyen weiß, dass es knapp wird. Weil alle Umfragen eine schrumpfende Mitte voraussagten, hielt sie bereits früh nach zusätzlichen Stimmen Ausschau, auch bei Parteien rechts von der EVP - dort vor allem bei den Abgeordneten der rechtsgerichteten italienischen Fratelli d'Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne sind darüber empört und drohen, von der Leyen nicht zu wählen, sollte sie mit Rechtsaußen-Parteien kooperieren. Wo die Ampel-Parteien ihre roten Linien genau ziehen, ist jedoch unklar. Aber sie würden sicher überschritten, wenn von der Leyen für ihre Wahl verbindliche Zusagen an Rechtsaußen-Kräfte macht, nicht dagegen schon bei deren bloßer Zustimmung.

Vieles ist noch im Fluss

Die Wahl im Parlament ist ohnehin geheim. Vieles ist im Fluss: Das zersplitterte rechte Lager muss sich erst sortieren und neu aufstellen. Sozialdemokraten, Liberale und Grüne wollen derweil verbindliche Absprachen mit von der Leyen zu Eckpunkten der Kommissionspolitik aushandeln, das kann dauern.

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Wendig genug ist die Präsidentin. Aber genießt sie noch ausreichend Vertrauen? Längst wird in Brüssel diskutiert, wer von der Leyen im Präsidentenamt nachfolgen könnte, sollte sie mit ihrer Bewerbung scheitern. Von Macron und Meloni heißt es in Brüssel, sie würden gern den Italiener Mario Draghi ins höchste Amt hieven. Der 76-Jährige war Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und Melonis Amtsvorgänger in Rom und die beiden kommen gut miteinander klar. Eine von Mario Draghi geführte Kommission hätte sicher besonderes Verständnis für italienische Haushaltsprobleme - und sie stünde ganz nach Macrons Geschmack für einen Kurswechsel in Brüssels Wirtschaftspolitik und für ein gigantisches EU-Investitionsprogramm. Dass aber die Christdemokraten den parteilosen Ökonomen unterstützen würden, ist nicht sehr wahrscheinlich.

Die EVP hätte ja im Fall der Fälle auch genügend Alternativkandidaten aus den eigenen Reihen: Als Favoriten gelten Parlamentspräsidentin Roberta Metsola aus Malta, der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis, sein kroatischer Amtskollege Andrej Plenkovic und der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis. Zudem nennen Eingeweihte als konservative Kandidaten auch die Bulgarin Kristalina Georgieva, die als Direktorin beim Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington arbeitet, und auch EZB-Präsidentin Christine Lagarde ist im Rennen. In Ratskreisen heißt es aber, wenn von der Leyen scheitere, sei auch mit Überraschungskandidaten zu rechnen. So war es auch 2019, als Macron nach tagelangem Tauziehen im Rat die deutsche Verteidigungsministerin vorschlug. Den Namen von der Leyen hörte mancher Regierungschef damals zum ersten Mal.

Der Autor ist EU-Korrespondent der Funke Mediengruppe in Brüssel.

Weitere Informationen im Dossier zur Europawahl 2024