Gastkommentare : Soll der Kommissionspräsident direkt gewählt werden?
Einige Wähler haben nicht das Gefühl, dass ihre Stimme wirklich zählt. Am Schluss entscheiden andere über das Personal. Würde Direktwahl helfen? Ein Pro und Contra.
Pro
Die EU würde an Transparenz gewinnen
Das Wort ist abgenutzt. Aber leider beschreibt der Begriff Hinterzimmerdeal ziemlich exakt, wie die höchsten Ämter in der EU vergeben werden. Nach der Europawahl werden die Staats- und Regierungschefs die Topjobs in der EU verteilen. Die Partei mit den meisten Stimmen, höchstwahrscheinlich die europäischen Christdemokraten, wird den Posten an der Spitze der EU-Kommission für sich reklamieren. Die anderen Parteien werden die verbleibenden Ämter unter sich aufteilen. Die Politiker werden dabei so lange feilschen, bis ein einigermaßen geographisch ausgewogen Paket steht, das große und kleine Länder berücksichtigt. Dieser Prozess wirkt aus der Zeit gefallen - und hat wenig mit Demokratie zu tun.
Die Feinde der EU überzeichnen gerne ihre Schwachstellen. Bei der Personalwahl hat die EU allerdings wirklich ein großes Problem. Wenn die europäische Bevölkerung künftig direkt bestimmen würde, wer an der Spitze der EU-Kommission steht, dann wäre das ein großer Fortschritt. Die EU würde an Transparenz gewinnen.
Es ist offensichtlich, dass sich die Staats- und Regierungschefs den Auswahlprozess nicht aus der Hand nehmen lassen. Versuche des Parlaments, die Wahl zum Wettbewerb unter Spitzenkandidaten zu machen, sind gescheitert. Vor fünf Jahren war klar, dass Manfred Weber (CSU) das Amt nicht bekommen wird, weil weder die damalige Kanzlerin Angela Merkel (CDU) noch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihm das Amt zutrauten. Diesmal nennt sich Ursula von der Leyen (CDU) Spitzenkandidatin, stellt sich aber nicht zur Wahl.
Bisher haben die Wähler nicht das Gefühl, dass ihre Stimme wirklich zählt. Am Schluss entscheiden andere über das Personal. Das muss sich ändern.
Contra
Eine Direktwahl würde mehr schaden als nutzen
Die Tagesschau berichtete neulich über den Europawahl-Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten Nicolas Schmit unter dem Titel: "Nicolas wer?". In der Tat kennt den Luxemburger in Deutschland fast niemand. Und das, obwohl er glänzend Deutsch spricht.
Das Beispiel zeigt: Es ist keine gute Idee, die EU-Kommissionspräsidentin oder den EU-Kommissionspräsidenten direkt wählen zu lassen. Denn die Bürger Europas müssten zwischen ihnen unbekannten Kandidaten entscheiden. Viele Wähler würden für Bewerber aus ihrem Land votieren. Statt sich für schwarz oder rot zu entscheiden, würden sie quasi für schwarz-rot-gold stimmen.
Wer findet, diese Vermutung sei übertrieben, muss erklären, warum es beim Eurovision Song Contest - zu Recht! - den Zuschauern verboten ist, für den Kandidaten aus dem eigenen Land abzustimmen. Das Ergebnis einer Direktwahl der Chefin oder des Chefs der EU-Kommission wäre, dass Kandidaten aus Österreich oder Luxemburg und erst recht Bewerber aus Bulgarien oder Portugal, sofern sie nicht Deutsch sprechen, hierzulande kaum Aussichten auf Stimmen hätten.
Noch gibt es weder europäische Tageszeitungen noch Rundfunksender, die es in ihrer Breitenwirkung auch nur annähernd mit nationalen Medien aufnehmen können. Solange aber eine "europäische Öffentlichkeit" Zukunftsmusik ist, dürfte eine Direktwahl der Präsidentin oder des Präsidenten der EU-Kommission eher die nationale Orientierung der Wähler befördern als deren europäische Perspektive. Das würde dem engeren Zusammenwachsen der Europäischen Union mehr schaden als nutzen.
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