Ambivalentes Verhältnis zu Europa : Premier Mitsotakis kämpft für ein starkes Mandat
Griechenland hat wirtschaftlich ein erstaunliches Comeback hingelegt. Aber bei vielen Menschen ist das "Wirtschaftswunder" bisher nicht angekommen.
Der einstige Pleitekandidat Griechenland hat ein erstaunliches Comeback hingelegt. Aber bei vielen Menschen ist das "Wirtschaftswunder" noch nicht angekommen. Sie spüren weiter die Folgen der Staatsschuldenkrise. Das Verhältnis zu Europa ist ambivalent. Davon könnte bei der Europawahl eine rechtspopulistische Partei profitieren.
Die Wähler nutzen die Europawahl gern, um Denkzettel zu verteilen. Das könnte vor allem die seit 2019 mit absoluter Mehrheit regierende konservative Nea Dimokratia (ND) von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zu spüren bekommen, die in Umfragen klar vorne liegt. Mitsotakis engagiert sich deshalb sehr im Europawahlkampf und bereist seit Wochen das ganze Land. Er bittet um "ein starkes Mandat, damit ich unsere berechtigten Forderungen in Brüssel vertreten kann".
Ministerpräsident Mitsotakis ist nicht unumstritten. Die Bürger leiden unter hohen Kosten und der Inflation.
Mitsotakis wird gemessen am Ergebnis der Europawahl 2019
Ein schlechtes Ergebnis bei der Europawahl würde "den Regierungsauftrag beeinträchtigen, den wir bei den Parlamentswahlen im vergangenen Juni bekommen haben", heißt es bei der ND. Damals konnte die Partei mit 41 Prozent ihre absolute Mehrheit im Parlament verteidigen. Dass sie bei der Europawahl diesen Erfolg wiederholen kann, gilt als unwahrscheinlich. Gemessen wird Mitsotakis an der Europawahl 2019. Damals erreichte die Partei 33,1 Prozent.
Interessant wird auch, wie sich die zersplitterte linke Opposition neu sortiert. Das von 2015 bis 2019 regierende radikale Linksbündnis Syriza verzeichnete bei der letzten Parlamentswahl schwere Verluste. In Umfragen liegt Syriza bei 15 Prozent, gefolgt von der sozialdemokratischen Traditionspartei Pasok mit rund 13 Prozent.
Griechische Wirtschaft glänzt mit guten Zahlen
Mitsotakis verdankt seine Wiederwahl vor allem dem Wirtschaftsaufschwung. Zum zweiten Mal in Folge vergab das Wirtschaftsmagazin "The Economist" das Prädikat für die "beste Wirtschaft des Jahres" 2023 an Griechenland.
Tatsächlich glänzt Griechenland mit beeindruckenden Zahlen. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs vergangenes Jahr viermal so schnell wie im Durchschnitt der Euro-Zone. Für dieses Jahr erwartet die EU-Kommission für Griechenland ein dreimal so starkes Wachstum wie im Schnitt der EU. Kein anderer EU-Staat hat seine Schuldenquote seit 2020 so schnell gesenkt wie Griechenland, nämlich um 44 Prozentpunkte.
Schuldenabbau, Haushaltsdisziplin, Strukturreformen
Die Regierung hat die Staatsfinanzen im Griff: "Wir sind nicht länger das schwarze Schaf der Euro-Zone", stellte Finanz- und Wirtschaftsminister Kostis Hatzidakis fest. Drei der vier großen Ratingagenturen bewerten das Land wieder als investitionswürdigen Schuldner. Sie honorieren damit nicht nur den Schuldenabbau, die Haushaltsdisziplin und die Strukturreformen, sondern auch die politische Stabilität.
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Die EU hat sich lange schwergetan mit einer Mitgliedschaft der Ukraine. Der russische Überfall hat alles verändert.
Die Westbalkan-Staaten haben nun zwar eine klare Beitrittsperspektive, stehen sich aber oft selbst im Weg - das zeigt etwa der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo.
Mehr staatliche Förderung für junge Familien
Mitsotakis verbindet eine wirtschaftsfreundliche Politik mit starken sozialen Komponenten. Er hat den staatlichen Mindestlohn in mehreren Schritten von 650 auf 830 Euro heraufgesetzt und die staatliche Förderung für junge Familien erheblich ausgeweitet.
Anfang des Jahres verabschiedete das Parlament einen Gesetzentwurf der Regierung zur Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare - im eher konservativ-orthodox geprägten Griechenland ein kontroverses Thema. Mitsotakis setzte sich persönlich für das Gesetz ein und schärfte damit sein Profil als liberaler Reformer. Er hat seit seinem Amtsantritt als Parteichef Anfang 2016 die früher rechtsgerichtete ND zur politischen Mitte geöffnet. Unumstritten ist dieser Kurs in der ND aber nicht.
Hohe Lebenshaltungskosten machen den Bürgern zu schaffen
Auch Mitsotakis' Unterstützung für die Ukraine im Konflikt mit Russland trifft nicht auf ungeteilte Zustimmung. Laut Umfragen sind zwei Drittel gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Viele Griechen fühlen sich Russland verbunden, vor allem wegen der gemeinsamen orthodoxen Religion.
Aber vor allem die hohen Lebenshaltungskosten drücken auf die Stimmung. Offiziell lag die Inflation im März bei 3,2 Prozent. Doch die gefühlte Teuerung ist viel höher, vor allem bei Lebensmitteln. In einer Erhebung der Athener Wirtschaftsuniversität sagten 45 Prozent der Befragten, dass es ihnen 2024 schlechter gehe als im Vorjahr.
Rechte Partei wirbt mit religiös-konservativen, russophilen Parolen
Profitieren könnte von der Unzufriedenheit die rechtspopulistische Partei "Griechische Lösung". Sie kam bei der Parlamentswahl auf 4,4 Prozent. In einigen Umfragen liegt sie nun bereits bei neun Prozent. Parteichef Kyriakos Velopoulos wirbt mit ultranationalen, religiös-konservativen, russophilen, ausländerfeindlichen und EU-skeptischen Parolen um Stimmen.
Bei einer EU-weiten Umfrage vom Herbst 2023 gaben in Griechenland nur 15 Prozent der Befragten an, sich "voll und ganz" als EU-Bürger zu fühlen, 40 Prozent stimmten der Aussage "teilweise" zu. Das war deutlich weniger als im Durchschnitt der 27 Mitgliedsstaaten, in denen sich 72 Prozent voll oder teilweise als EU-Bürger betrachten.
Distanz zu Europa als Nachwirkung der Krisenjahre
Das hohe Maß an Europaskepsis überrascht, denn Griechenlands EU-Mitgliedschaft ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Wie wenige EU-Staaten hat Griechenland von den Strukturhilfen aus Brüssel profitiert. Jetzt gehört das Land zu den größten Nutznießern des EU-Aufbaufonds RRF. Die Distanz zu Europa dürfte vor allem eine Nachwirkung der Krisenjahre sein, in denen viele Menschen die EU wegen der strikten Sparauflagen als eine Art Kolonialmacht wahrnahmen.
Das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei ist angespannt. Als Druckmittel dient oft die Migrationspolitik. Im Bild Präsident Kyriakos Mitsotakis (links) bei einem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Auch im Dauerkonflikt mit dem Nachbarn Türkei wünschen sich viele Griechen mehr Beistand der EU. Ankara macht Griechenland Hoheitsrechte und Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer streitig. Dabei setzte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan immer wieder Migranten als Druckmittel ein.
Schleuser entdecken immer neue Routen
Beim Thema Migration fühlen sich griechische Politiker, aber auch die Bevölkerung, von der EU alleingelassen. Einen funktionierenden Mechanismus zur Verteilung der Schutzsuchenden auf andere Mitgliedsstaaten gibt es nicht.
Derweil entdecken Schleuser immer neue Routen. Zu einem Brennpunkt der irregulären Migration ist die kleine Insel Gavdos südlich von Kreta geworden. Dort trafen allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1.186 Menschen in Booten aus Nordafrika ein - gegenüber 683 im gesamten Jahr 2023. Die 120 Einwohner fürchten, dass Gavdos ein "griechisches Lampedusa" wird.
Viele Griechen empfanden die Auflagen als "deutsches Spardiktat"
Auch das Verhältnis zu Deutschland, ohnehin historisch belastet durch die Besatzung im Zweiten Weltkrieg, hat unter der Schuldenkrise gelitten. Viele Menschen in Griechenland empfanden die Auflagen der Kreditgeber als "deutsches Spardiktat". Die Folgen der anschließenden Rezession sind immer noch zu spüren.
Das Durchschnittseinkommen stieg zwar in den vergangenen drei Jahren von 1.046 auf 1.258 Euro. Es liegt damit aber nominal immer noch deutlich unter dem Vorkrisenniveau von 1.500 Euro. Bei der Kaufkraft belegt Griechenland laut Eurostat den vorletzten Platz unter den 27 EU-Staaten. Noch weniger können sich nur die Menschen in Bulgarien leisten.
Pro-Kopf-Einkommen ist immer noch sehr niedrig
In den Krisenjahren verlor Griechenland ein Viertel seiner Wirtschaftskraft. 2009 lag das statistische Pro-Kopf-Einkommen bei 95 Prozent des EU-Durchschnitts. Heute sind es, trotz des starken Wachstums der vergangenen drei Jahre nur 67 Prozent.
Nach Berechnungen der griechischen Eurobank Research wird das BIP inflationsbereinigt frühestens im Jahr 2033 wieder das Vorkrisenniveau erreichen. Und auch danach wird das Land noch jahrzehntelang mit den Folgen der Krise zu kämpfen haben: Die Tilgung der Hilfskredite endet erst im Jahr 2070.