Machtwechsel in Großbritannien : Triumph für die Labour-Partei
Nach 14 Jahren konservativer Regierungen übernimmt der sozialdemokratische Keir Starmer das Amt des Premierministers Großbritanniens. Auf ihn warten große Aufgaben.
Nach dem Wahlsieg kündigte der neue britische Premier Keir Starmer einen Neustart für das Land an. "Der Wandel beginnt jetzt", sagte er in seiner ersten Rede vor Anhängern am Freitag.
Wohl kein anderes Bauwerk in London steht so sehr für die Aufbruchstimmung Großbritanniens unter Premier Tony Blair (1997-2007) zur Jahrhundertwende wie die Tate Modern am Südufer der Themse. Die gewaltige Turbinenhalle diente am Freitagmorgen als Schauplatz für die erste längere Rede eines Mannes, der in die Fußstapfen des erfolgreichsten Labour-Premiers aller Zeiten treten will: Keir Starmer, der neue britische Regierungschef, dem die Briten am Donnerstag einen ähnlichen Erdrutschsieg bescherten wie dem Vorgänger bei dessen Wahl 1997.
Starmer verspricht Ideale zu erneuern, die das Land zusammenhalten
Unter dem Jubel jugendlicher Anhänger sprach der 61-Jährige von der "Bürde, die von den Schultern unseres Landes genommen" worden sei. Gemeint war die 14 Jahre andauernde Regierungszeit der Konservativen, in der die Realeinkommen sanken, die öffentliche Infrastruktur verkam und die Partei fünf Premierminister verschliss. Jetzt beginne, so Starmer, eine Veränderung: "Wir wollen allen hart arbeitenden Menschen in unserem Land die Hoffnung zurückgeben." Dafür sei nichts weniger nötig als "die Ideale zu erneuern, die das Land zusammenhalten".
Die Last auf Starmers Schultern besteht nun vor allem in den hochgespannten Erwartungen seiner Partei nach 14 schwierigen Oppositionsjahren. Im Vergleich dazu halten sich die Erwartungen der Bevölkerung, so schien es jedenfalls im sechswöchigen Wahlkampf, in engen Grenzen.
Dass die Briten dazu entschlossen waren, die Tories aus dem Amt zu jagen, stand zu keinem Zeitpunkt in Zweifel. Das Vorhaben setzten sie am Donnerstag diszipliniert in die Tat um: Eingefleischte Konservative blieben entweder zu Hause oder votierten für die Reform-Bewegung des Nationalpopulisten Nigel Farage; Gegner der bisherigen Regierungspartei gaben ihre Stimme nach taktischen Gesichtspunkten dem jeweils aussichtsreichsten Konkurrenten in den 632 Wahlkreisen auf der britischen Insel. Wie gehabt standen in den 18 Bezirken Nordirlands ausschließlich die dortigen Regionalparteien zur Wahl.
Der Wahlverlierer lobt "das beste Land der Welt"
Engländer, Schotten und Waliserbescherten den Tories die schwerste Niederlage seit 1906. Den noch inoffiziellen Ergebnissen vom Freitagmittag zufolge brachte es die einst stolze Regierungspartei mit etwa 24 Prozent der Stimmen gerade noch auf 120 Mandate, etwa ein Drittel der 2019 unter Boris Johnson gewonnenen Sitze. Dagegen konnte Labour (34 Prozent) die Sitzzahl auf 412 verdoppeln.
Ehe der scheidende Regierungschef zur Abschiedsaudienz bei König Charles III in den Buckingham-Palast aufbrach, nutzte er seine letzte Rede vor dem Amtssitz in der Downing Street für versöhnliche Worte: "Ich habe Ihre Wut und Ihre Enttäuschung vernommen und übernehme die Verantwortung für diese Niederlage", sagte Sunak. Er wünsche seinem Nachfolger, einem "integren Mann mit Sinn fürs Gemeinwohl" alles Gute: "Seine Erfolge werden unser aller Erfolge sein." Schließlich lobte Sunak das "beste Land der Welt", in das seine Großeltern im vergangenen Jahrhundert eingewandert waren. Es bleibe erstaunlich, wie wenig bemerkenswert seine Berufung zum Premierminister gewesen sei.
Prominente Tories haben ihre Sitze verloren, so auch Ex-Premierministerin Truss
Schon vor der Wahl hatten Parteirechte wie die von Sunak gefeuerte Ex-Innenministerin Suella Braverman den Chef heftig kritisiert. Ihren Sitz im Unterhaus haben vor allem Politiker vom gemäßigten Flügel der Partei verloren: Kabinettsmitglieder wie Justizminister Alex Chalk, seine Kolleginnen Lucy Frazer (Kultur), Gillian Keegan (Bildung) und die bekannte Unterhaus-Abgeordnete Penny Mordaunt. Prominentestes Opfer ist wohl Kurzzeit-Premierministerin Liz Truss.
Besonders deutlich hob das britische Ergebnis die eklatante Ungerechtigkeit des Mehrheitswahlrechts hervor - oder, je nach Lesart, die Brillanz jener Wahlstrategen, welche die Anstrengungen ihrer jeweiligen Partei auf aussichtsreiche Bezirke konzentrierten. Mit 3,5 Millionen Wählerstimmen gewannen die Liberaldemokraten 71 Sitze; hingegen brauchten die Grünen für jeden ihrer vier Sitze je eine halbe Million Stimmen.
Dem neuen Unterhaus gehört auch eine Handvoll Unabhängiger an. Alle waren sie gegen amtierende Labour-Abgeordnete in Wahlkreisen mit großen muslimischen Minderheiten angetreten und hatten sich den Zorn über Israels Gaza-Krieg und Labours angeblich zu lasche Reaktion darauf zunutze gemacht. Dieser Bewegung fiel auch einer von Labours wichtigsten Wahlkampf-Strategen, der erfahrene Jonathan Ashworth, zum Opfer.
Bisheriger Finanzminister lobt zivilen Machtwechsel
Ein Überlebender des gewaltigen Tory-Gemetzels erinnerte die Briten an den täglichen Überlebenskampf in der Ukraine. "Wir haben das unglaubliche Glück, in einem Land zu leben, in dem Machtwechsel nicht mit Bomben und Granaten, sondern mit Millionen von Wahlzetteln entschieden werden", so der bisherige Finanzminister Jeremy Hunt, der mit gewaltigem Einsatz, nicht zuletzt auch seines eigenen Ersparten, seinen Sitz hatte retten können. "Das ist die Magie der Demokratie."
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Und wie es die Briten gewohnt sind, geht die neue Regierung ohne jede Verzögerung ans Werk. Noch am Freitag wollte der neue Premier in Einzelgesprächen seine Ministerinnen und Minister auf die bevorstehenden Aufgaben einschwören. Am Dienstag tritt das Unterhaus zum ersten Mal zusammen; Starmer reist dann bereits zu seinem ersten internationalen Zusammentreffen, nämlich dem Nato-Gipfel in Washington. Das wird dem bisher außenpolitisch eher unerfahrenen Politiker Gelegenheit geben, mit vielen seiner wichtigsten Partner erste Kontakte zu knüpfen. Mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz (SPD) steht der Sozialdemokrat längst in angeregtem Dialog. Womöglich schon im August will das Duo eine neue Sicherheitsvereinbarung unterzeichnen.
Der Autor berichtet als freier Korrespondent aus London.