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Parlamentswahlen in Großbritannien : Labour steht vor Erdrutschsieg

Nach 14 Jahren Regierung steuern die Tories bei den Parlamentswahlen auf eine Niederlage zu. Neuer Premier könnte der Labour-Chef Keir Starmer werden.

28.06.2024
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4 Min
Foto: picture alliance / empics

Gut eine Woche vor dem Wahltag lieferten sich Keir Starmer (li.) und Rishi Sunak am Mittwoch ein hartes TV-Duell.

Die südenglische Hafenstadt Portsmouth entsendet zwei der insgesamt 650 Abgeordneten ins Unterhaus. Im Festsaal der privaten Mädchenschule Portsmouth High dreht sich an diesem sonnigen Juniabend alles um den nördlichen Wahlkreis der Stadt: Die Mandatsbewerber, zwei Frauen und drei Männer, stellen sich anderthalb Stunden lang den Fragen des etwa 50-köpfigen Publikums.

Konservative kämpfen gegen die Wechselstimmung

Auf dem Podium sitzt auch jene Frau, deren Job auf dem Spiel steht. Seit 2010 hat Penelope "Penny" Mordaunt im Londoner Parlament als "sehr ehrenwertes Mitglied" für Portsmouth North amtiert, war Ministerin für Entwicklungshilfe und Verteidigung, zuletzt im Kabinett von Premierminister Rishi Sunak für das Gesetzesprogramm der konservativen Regierung zuständig. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde die Reservistin der Royal Navy bei der Krönung von König Charles III: Als "Lord President" hatte die 51-Jährige das zeremonielle Schwert zu tragen.


„Den Tories hören die Leute gar nicht mehr zu. “
Politikprofessor John Curtice

Die Prominenz aber, so suggerieren es die Umfragen, wird Mordaunt diesmal ebenso wenig vor dem Mandatsverlust bewahren wie bis zu zehn ihrer Kabinettskollegen. Landauf, landab kämpfen Konservative gegen die Wechselstimmung: Nach 14 Jahren Tory-geführter Regierungen wünschen sich viele Briten einen politischen Neuanfang. Es gebe keine Begeisterung für die Labour-Party unter Oppositionsführer Keir Starmer, glaubt Politikprofessor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität: "Aber den Tories hören die Leute gar nicht mehr zu."

Das hat sich auch im Wahlkampf nicht geändert, im Gegenteil: Nur noch rund 21 Prozent der Wahlberechtigten bekennen sich zur Regierungspartei, die 2019 unter Boris Johnson 44 Prozent holte. Weil Labour durchschnittlich bei 41 Prozent notiert und auf der Insel das Mehrheitswahlrecht gilt, müssen Sunak und seine Leute mit einer krachenden Niederlage rechnen. Dementsprechend zielt der Wahlkampf auf ältere, rechts stehende Kernwähler: sichere Renten, ein Pflichtjahr für junge Erwachsene, Abschwächung der Klimaziele.

Prominente Tories schüren Angst vor "Super-Mehrheit" für Labour

Zum Ende der Kampagne hämmert Sunak den Briten ein, sie sollten das Land nicht "der Labour-Party übergeben" (don't surrender to the Labour Party). Die emotionale Wortwahl - im Krieg steht ein surrender für die Kapitulation - verdeutlicht die Angst vor einer historischen Niederlage. Dazu passen die Warnungen prominenter Torys vor einer "Super-Mehrheit" für die Labour-Opposition. Dieser aus Amerika stammende Begriff hat im parlamentarischen System Großbritanniens keine Bedeutung: Jede Regierung hat schon mit einigermaßen solider Mandatsmehrheit im Unterhaus freie Bahn. Von einer "gewählten Diktatur" sprach daher einmal der 2001 verstorbene Verfassungsexperte und langjährige Justizminister Lord Hailsham.

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Dass die Briten kommende Woche überhaupt zur Urne schreiten, kam für die meisten professionellen Beobachter überraschend. Eine Juli-Wahl bleibt im Vereinigten Königreich die große Ausnahme, als normal gilt ein Termin im Frühjahr oder Herbst. Nach den chaotischen Zeiten unter seinen Vorgängern Boris Johnson und Liz Truss wohnt Sunak erst seit Oktober 2022 hinter der berühmten schwarzen Tür von Downing Street Nummer Zehn. Wenigstens zwei Jahre werde er amtieren wollen, glaubten viele in Westminster. Mit seiner Entscheidung für den 4. Juli erwischte der Premierminister, in dessen Verantwortung die Festsetzung des Wahltermins fällt, nicht zuletzt seine eigene Partei auf dem falschen Fuß: In großer Hast mussten Kandidatinnen gefunden, Urlaubsreisen abgesagt, Werbematerial gedruckt werden.

Nationalpopulistische Reform-Bewegung von Nigel Farage im Aufwind

Wollte der Premier vor allem die weit rechts stehende Reform-Bewegung in Verlegenheit bringen? Dieses Ziel hat er verfehlt: Den Demoskopen zufolge stammen die 15 bis 18 Prozent jener, die sich zur von Nationalpopulist Nigel Farage geführten "Reform UK" bekennen, beinahe ausschließlich aus dem konservativen Wählerpotenzial. Dass Farage den russischen Überfall auf die Ukraine der Erweiterung von EU und Nato anlastet, könnte ihn allerdings zuletzt noch Stimmen patriotischer Briten kosten.

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Allerdings hat der Premierminister genau diese Klientel nachhaltig verärgert, indem er am 6. Juni das internationale Gedenken zum 80. Jahrestag des alliierten Einmarsches in der Normandie zugunsten eines Wahlkampftermins schwänzte. Zuletzt standen die Tories zudem wegen eines Wettskandals im Kreuzfeuer: Offenbar hatten mehrere Parteimitglieder mit Wetten auf den Wahltermin Geld gewonnen. Die Aufsichtsbehörde ermittelt wegen Insidergeschäften.

Starmer gilt als langweilig, aber kompetent 

Oppositionsführer Starmer wirkt bei Werbeauftritten häufig etwas unbeholfen, erkennbar ist für den Anwalt und früheren Leiter der englischen Staatsanwaltschaft der Kontakt mit der Bevölkerung eher anstrengend. Auch im Fernsehen macht Starmer selten bella figura. Alles nicht so wichtig, glauben die Demoskopen. Ihr Fazit: "Schlechter als die Tories kann es Labour auch nicht machen." Dass Starmer in den Medien als "Langweiler" gilt, scheint seinem Team gerade recht zu sein. Ihr Mann stehe für Stabilität, Seriosität, planmäßiges Handeln - mit "Wir brauchen den Wechsel und einen Neuanfang", macht sich der Sozialdemokrat den bewährten Slogan aller Oppositionsparteien zu eigen.

In Portsmouth trägt Ministerin Mordaunt Gleichmut zur Schau. Immerhin dürfen, egal welcher Couleur, Amtsinhaber mit einem Bonus von bis zu fünf Prozent rechnen. Ob das aber reicht? "Man muss immer weitermachen", sagt sie. Zuversicht klingt anders. 

Der Autor berichtet als freier Korrespondent aus London.