Zehn Jahre Krieg in der Ukraine : "Wir hätten damals schon klar die Grenzen aufzeigen müssen"
Die SPD-Außenexpertin Derya Türk-Nachbaur über Versäumnisse der deutschen Russlandpolitik nach der Annexion der Krim in 2014 und die Unterstützung der Ukraine heute.
Dieser Tage ist oft von "zwei Jahre Ukrainekrieg" die Rede. Nun haben die Koalitionsfraktionen einen Antrag mit "zehn Jahre russischer Krieg gegen die Ukraine" überschrieben. Was bringen Sie damit zum Ausdruck?
Derya Türk-Nachbaur: Dass Putin tatsächlich seit zehn Jahren einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine führt. Nicht erst seit Februar 2022, sondern seit Februar 2014. Vor zehn Jahren haben russische Soldaten Angriffe auf die ukrainische Halbinsel Krim gestartet und Russland hat sie schließlich auch annektiert. Seither gibt es dort Unruhen, und die Krim wie auch insbesondere die Ostukraine wurde nie befriedet. Von daher ist es schon korrekt, von zehn Jahren Krieg zu sprechen.
Derya Türk-Nachbaur (SPD) ist seit 2021 Abgeordnete des Bundestages. Sie ist Mitglied in den Ausschüssen für Menschenrechte und für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Moskau hat schon 2014, mit der Annexion der Krim, mehrere internationale Abkommen über die Unverletzlichkeit der Grenzen gebrochen, die es selbst unterschrieben hatte. Haben die europäischen Demokratien es damals versäumt, angemessen zu reagieren, und damit Putin erst zu noch brutalerem Vorgehen ermutigt?
Derya Türk-Nachbaur: Im Nachhinein ist es natürlich einfacher, das zu sagen, aber es stimmt. Wir haben als europäische Mitgliedsstaaten nicht konsequent genug reagiert. Wir hätten damals schon klar die Grenzen aufzeigen müssen. Bemühungen gab es zwar von Seiten der europäischen Mitgliedsstaaten, gefruchtet haben sie allerdings nicht. Das hätten wir viel, viel deutlicher adressieren müssen.
Die Menschen auf der Krim leben seit zehn Jahren unter russischer Besatzung. Was bedeutet das für diese Menschen?
Derya Türk-Nachbaur: Für diese Menschen ist es ziemlich dramatisch. Viele von ihnen haben sich von der internationalen Gemeinschaft schon vor zehn Jahren nicht genug gehört gefühlt. Sie haben sich zum Teil vergessen gefühlt, obwohl wir als Deutsche, das muss ich direkt einschieben, seit über zehn Jahren Entwicklungszusammenarbeit in der Ukraine leisten. Wir haben viel dafür getan, dass es dort neue Strukturen gibt, wir haben viel Geld in Infrastruktur gesteckt, wir haben das Bildungssystem unterstützt, wir haben geholfen, Korruption zu bekämpfen. Es ist nicht so, dass wir nicht aktiv waren, aber ich glaube, die Menschen haben sich da noch eine andere Form der Unterstützung gewünscht.
Besonders hart hat es die tatarische Bevölkerung auf der Krim getroffen, die dort über Jahrhunderte die Mehrheit gestellt hatte und dann wiederholt unter Verfolgung und Deportation zu leiden hatte. Was wissen Sie über die Lage der Tataren heute?
Derya Türk-Nachbaur: Die Krim-Tataren sind nach wie vor unterdrückt und viele mussten ihre Heimat zurücklassen, um halbwegs in Sicherheit und Frieden zu leben. Das ist sehr dramatisch und kann uns nicht egal sein. Wir sollten zusehen, dass diese Minderheit, die tatsächlich sehr unter der russischen Besatzung leidet, in irgendeiner Form unterstützt wird und das Leid dieser Menschen sichtbarer wird. Ich habe in meiner Arbeit im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe auch auf die Lage der indigenen Bevölkerung in Russland selbst hingewiesen. Auch diese Menschen leiden sehr unter der russischen Macht und Unterdrückung.
Die ukrainische Regierung bemüht sich auch unter Kriegsbedingungen um innere Reformen. Wie kann Deutschland diese Transformation der Ukraine hin zu EU-Standards unterstützen?
Derya Türk-Nachbaur: Wir haben nie aufgehört, die ukrainische Regierung dabei zu unterstützen. Ein sehr wichtiges Thema war und ist für die ukrainische Regierung die Bekämpfung von Korruption. Dabei haben wir nachhaltig geholfen und tun dies nach wie vor. Die Ukraine ist da auf einem guten Weg. Ich habe wirklich größten Respekt vor dem Einsatz der ukrainischen Bürgerinnen und Bürger, die trotz dieser herausfordernden Zeit, trotz aller Angriffe entschlossen sind, ihr Land auf die EU-Mitgliedschaft vorzubereiten. Sie sind pro-europäisch, sie gehören nach Europa, sie gehören ins Herz unserer freiheitlichen Grundordnung, in die EU. Dort sind sie herzlich willkommen.
Sie haben unlängst im Bundestag gesagt: Wer der Ukraine hilft, handelt auch im eigenen Interesse. Was meinen Sie damit?
Derya Türk-Nachbaur: Damit meine ich ganz klar, dass die Ukraine auch die Freiheit Europas schützt. Die Ukraine verteidigt nicht nur sich selber, sie verteidigt auch unsere Werte in Europa. Dafür größten Respekt und größten Dank. Und deshalb muss es in unserem Interesse sein, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie die russische Aggression abwehren kann, dass Putin all seine Soldatinnen und Soldaten abzieht, die Souveränität der Ukraine gewährleistet ist und die Grenzen von vor zehn Jahren wiederhergestellt werden.
Der ukrainische Präsident Selenskyi hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz zum wiederholten Mal um weit reichende Waffen gebeten, um die russischen Streitkräfte schon in ihren Aufmarschgebieten stoppen zu können. Der deutsche Taurus-Marschflugkörper ist eine solche Waffe. Nun hat Bundeskanzler Scholz auf die Frage nach ihrer Lieferung auch in München ausweichend geantwortet. Wie stehen Sie dazu?
Derya Türk-Nachbaur: Ich finde, wir sollten die Ukraine mit allem, was wir haben und was wir leisten können, unterstützen. Die Taurus, das sage ich ganz deutlich, ist nicht die Wunderwaffe, die den Ausschlag gibt, ob der Krieg gewonnen oder verloren wird - ich hoffe, niemals verloren. Ich bin sehr dankbar, dass nach Großbritannien nun auch Deutschland ein Sicherheitsabkommen mit der Ukraine vereinbart hat. Bundeskanzler Scholz und Präsident Selenskyi haben diese vertiefte Partnerschaft in Berlin beschlossen und ein entsprechendes bilaterale Abkommen unterzeichnet. Es ist eine Vereinbarung über Sicherheitszusagen und langfristige Unterstützung. Das ist ein mehr als deutliches Signal an die Ukraine, dass wir uneingeschränkt an deren Seite stehen. Ich möchte auch betonen, dass Deutschland der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ist. Wir leisten teilweise mehr, als die anderen EU-Mitgliedsstaaten zusammen. Und wenn die Ukraine langfristig siegen soll, und ich glaube, das ist in unser aller Interesse, dann müssen unsere EU-Partner auch weitaus mehr Unterstützung leisten. Deutschland macht eine ganze Menge, und jetzt sind auch unsere EU-Partner gefordert.
Frau Türk-Nachbaur, Sie sind auch Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats. Kann dieser älteste und mit 46 Mitgliedern größte Zusammenschluss europäischer Länder etwas zur Unterstützung der Ukraine bewirken?
Derya Türk-Nachbaur: Die Ukraine ist regelmäßig Thema im Europarat, wofür ich auch sehr dankbar bin. Es geht da vor allem um Rechtsstaatlichkeit und ein Post-Kriegs-Szenario. Wir wollen natürlich die geopolitischen Auswirkungen dieses Konflikts eindämmen. Es geht aber auch darum, Strafbarkeit zu gewährleisten, es geht um Sanktionen und um das Recht der Ukraine auf Wiederaufbauleistungen seitens Russlands. Das ist regelmäßig dort Thema, und der Fokus des Europarats auf die Ukraine wird auch nicht abebben.
Vor zehn Jahren besetzte Russland die Krim und entfachte einen Bürgerkrieg im Osten des Landes. Die ganze Tragweite dieses Vorgangs wurde lange nicht gesehen.
Die Koalition setzt auf weitere Waffenlieferung für die von Russland angegriffene Ukraine. Die Taurus-Frage bleibt aber offen.
Soldat, Diplomat, Abgeordneter - Knut Abraham bringt viel Expertise für sein außenpolitisches Engagement im Bundestag mit.
Und wie stehen die Aussichten, dass Putin selbst eines Tages für Verstöße gegen das Völkerrecht zur Verantwortung gezogen wird?
Derya Türk-Nachbaur: Ich möchte daran glauben. Ich bin überzeugte Europäerin, ich bin grundgesetzverliebt, und ich finde das internationale Strafrecht immens wichtig und immens unterstützenswert. Ich möchte erleben, dass dieser Kriegsverbrecher tatsächlich bestraft wird, dass er Rede und Antwort stehen und sich für all diese Verbrechen verantworten muss. Dafür kämpfen wir, daran arbeiten wir, und ich hoffe, wir werden diesen Tag bald erleben.