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Regierung verliert Vertrauen : 76 Prozent der Israelis wollen Netanjahus Rücktritt

Benjamin Netanjahu weist die Verantwortung für die Terroranschläge vom 7. Oktober anderen zu. Die Wut in der Bevölkerung wächst.

17.11.2023
2024-02-26T14:10:28.3600Z
4 Min

Die Umfragen ergeben ein klares Bild: 76 Prozent der Israelis möchten, dass Premier Benjamin Netanjahu sofort abtritt. 64 Prozent sagen, wenn er schon nicht jetzt abtritt, dann muss es wenigstens nach dem Krieg sofort Neuwahlen geben. Und lediglich vier Prozent glauben ihrem Premier, wenn er über den Krieg spricht und seinem Volk erzählt, wie der Krieg läuft. Die große Mehrheit vertraut lieber den Aussagen des Armeesprechers Daniel Hagari.

Nein, Benjamin Netanjahu hat in der Bevölkerung so gut wie keinen Rückhalt mehr. Die Wut auf ihn ist riesig. Seine Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen, lässt ihn für viele noch perfider wirken. Denn so viel ist klar, seit Beginn des Krieges arbeitet Netanjahu an seinem Narrativ, dass alle verantwortlich sind - Militär und Geheimdienste - nur nicht er. Er habe von nichts gewusst, niemand habe ihn gewarnt. Was so nicht ganz stimmt, um es vorsichtig zu sagen.

Foto: picture alliance/dpa

Benjamin Netanjahu schiebt die Verantwortung für das Versagen gegenüber dem Terror der Hamas am 7. Oktober auf Geheimdienste und Militär.

Immer wieder wird Netanjahu gefragt, ob er denn endlich einmal bereit wäre, Verantwortung für das katastrophale Versagen des gesamten Sicherheitsapparates am 7. Oktober zu übernehmen. Und alles, was er wie ein Mantra wiederholt, ist, dass alle sich nach dem Krieg "harten Fragen" werden stellen müssen, auch er. Während die Führung des Militärs und der Geheimdienste längst ihr Versagen angesichts des Hamas-Terrors eingestanden und damit signalisiert haben, dass sie nach dem Krieg zurücktreten werden, ist deutlich, dass Netanjahu nicht die Absicht hat, freiwillig seinen Stuhl zu räumen.

Netanjahu zieht Vergleiche zu US-Präsidenten 

Die meisten Israelis macht das noch wütender, als sie sowieso schon sind. Erst vor wenigen Tagen forderte Oppositionsführer Yair Lapid, dass Netanjahu sofort, jetzt mitten im Krieg, ausgetauscht werden sollte gegen einen anderen Politiker aus der Likud-Partei. Andere fordern ähnliches - das Tabu, dass man eine politische Führung mitten im Krieg nicht austauscht, ist zumindest im öffentlichen Diskurs gebrochen. Es war ja ausgerechnet Winston Churchill, Netanjahus großes Vorbild, der während des Zweiten Weltkriegs das Ruder in Großbritannien übernahm, um sein Land zu retten.

Netanjahu selbst vergleicht seine Situation mit der von US-Präsidenten. Als auch eine CNN-Journalistin in einem Fernsehinterview die unvermeidliche Frage nach der Verantwortung stellte, blaffte er zurück, ob denn Roosevelt hätte gehen müssen nach Pearl Harbor oder Bush nach 9/11.


„Netanjahu hat das Vertrauen seiner Bürger verloren, das Vertrauen der internationalen Gemeinschaft und das Vertrauen des Sicherheitsapparates.“
Oppositionsführer Jair Lapid

In Israel marschieren inzwischen die Familien der Entführten innerhalb von fünf Tagen von Tel Aviv nach Jerusalem. Ein Protestmarsch, dem sich immer mehr Israelis anschließen sollen. Die Angehörigen der Geiseln sind wütend auf die Regierung, die in ihren Augen nicht genug tut, um die Entführten frei zu bekommen und mit ihrem Dauerbombardement das Leben der Entführten gefährdet. Die Solidarität mit den Familien ist riesig. Und jeder versteht die Wut auf Netanjahu, wenngleich nicht alle die Meinung vertreten, Israel müsse sich im Krieg lieber etwas zurückhalten, um die 239 Menschen in der Hand der Hamas vor Raketen- und Bombenangriffen zu schützen.

Hoffnung auf Sieg gegen Hamas

Netanjahu weiß, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist und er ist durchaus nervös. Aber er hofft, dass ein Sieg über die Hamas, vielleicht sogar noch ein strategischer Erfolg gegen die Hizbollah im Norden, ihm wieder etwas an Statur zurückgeben wird, sodass er an der Macht bleiben kann.

So wie die Atmosphäre in Israel im Augenblick ist, dürfte sich das Gros der Gesellschaft aber auf den Krieg nach dem Krieg vorbereiten: die Vertreibung Netanjahus und seiner Koalition aus ihren Ämtern. Wäre genau jetzt der Krieg vorbei, so würden nicht nur Hunderttausende auf die Straße gehen, wie bei den Demos gegen die geplante Justizreform, sondern womöglich Millionen. Doch noch ist dieser Krieg nicht vorbei. Die Israelis müssen abwarten, es geht erst einmal darum, den Feind zu besiegen. Doch viele befürchten, Netanjahu könnte den Krieg bewusst in die Länge ziehen, um sich an der Macht zu halten. So könnte es vielleicht schon während des Krieges zu Massenprotesten gegen den Premier kommen.

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Und dann gibt es noch eine wichtige Komponente: Generalstab und Geheimdienste vergessen Netanjahu nicht, dass er ihnen mitten im Krieg, während ihre Leute an der Front ihr Leben riskieren, in den Rücken gefallen ist und sie schlecht gemacht hat, um seine eigene Haut zu retten. Es gibt durchaus Stimmen, die Netanjahu keinen "Sieg" gönnen möchten.

Putsch  gegen Netanjahu ist in Israel undenkbar

Bedeutet das, dass die Armee gegen den Premier putschen würde? Nein, gewiss nicht. In Israel ist so etwas undenkbar. Aber die Generäle könnten sich nach Kriegsende öffentlich sehr kritisch äußern, könnten ihre Meinung wiedergeben und bei vielen Oppositionspolitikern Unterstützung erhalten, allen voran von Benny Gantz, der nur für die Zeit des Krieges in die Notstandsregierung eingetreten ist. Gantz, einst selbst Verteidigungsminister und Generalstabschef der Armee, hat Ambitionen, Premier zu werden. Möglicherweise würde es ihm gut passen, wenn die Armeeführung sich am "Tag danach" mehr oder weniger deutlich gegen Netanjahu und seine Politik positionieren würde.

So viel scheint jetzt schon sicher: Nach dem Krieg wird Israel eine politische Krise durchmachen, die wahrscheinlich intensiver und heftiger sein wird als alles, was sich seit Anfang des Jahres im Land abgespielt hat. Premier Netanjahu sitzt womöglich nur noch mit geborgter Zeit auf seinen Stuhl. Das Ende einer Ära könnte bereits begonnen haben. 

Der Autor arbeitet als freier Journalist in Tel Aviv.