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Russland : Aus dem Hörsaal direkt in die Armee

Die Teilmobilmachung in Russland löst Panik in der Bevölkerung aus.

26.09.2022
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3 Min

Kilometerlange Warteschlangen vor den Grenzübergängen nach Finnland, Kasachstan, Georgien, in die Mongolei. Ausgebuchte Flugtickets in visafreie Länder, verzweifelte Social-Media-Einträge. Bei vielen russischen Männern hat die von Präsidenten Wladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung Panik ausgelöst. Zwar sollen Verteidigungsminister Sergej Schoigu zufolge nur Reservisten einberufen werden, die über Kampferfahrung verfügen und einen Beruf haben, der an der Front gebraucht wird. Doch schon die Praxis der ersten Tage sieht anders aus. Während das russische Verteidigungsministerium von rund 10.000 Reservisten sprach, die sich von selbst bei den Einberufungsstellen gemeldet hätten, kursieren in den sozialen Netzwerken Berichte von Männern, die nach eigener Aussage noch nie eine Waffe in der Hand hatten, aber trotzdem einberufen werden. Das Portal "The Village" berichtet, in Ulan-Ude in der abgelegenen Region Burjatien habe die Militärpolizei Studenten direkt aus der Vorlesung geholt.

Es gehe, wie so oft in Russland, im Wesentlichen darum, Zielvorgaben zu erfüllen, erläutert der Militärexperte Ruslan Lewijew vom Conflict Intelligence Team: "Mit Sicherheit werden Männer einberufen, die gar nicht die Kriterien erfüllen."

Viele Russen misstrauen auch der von Schoigu vorgegebenen Zahl von 300.000. In einem nicht veröffentlichten Absatz in Putins Dekret soll von einer Million einzuziehenden Männern die Rede sein. Das berichtet die "Novaja Gazeta Evropa", europäischer Ableger einer der wichtigsten unabhängigen Zeitungen Russlands, unter Berufung auf eine nicht genannte Quelle in der Präsidialadministration. Schoigu sprach von potenziell 25 Millionen Reservisten in Russland.

Noch am Tag der Bekanntgabe protestierten in vielen russischen Städten Menschen gegen die Zwangsmaßnahme und gegen den Krieg. Die Menschenrechtsorganisation OVD-Info zählte mehr als 1.300 Festnahmen an den ersten beiden Tagen. Das russische Exilmedium "Meduza" schreibt, zahlreiche Männer, die bei Protesten gegen den Krieg und die Mobilmachung festgenommen wurden, hätten noch auf der Polizeistation einen Einberufungsbescheid erhalten.

Hohe Strafen

Die Teilmobilmachung kam nach den überraschend großen Erfolgen der ukrainischen Gegenoffensive und dem offenbar in Teilen chaotischen Rückzug der russischen Truppen aus dem Gebiet Charkiw. Immer aggressiver hatten Scharfmacher in den russischen Propagandakanälen eine härtere Gangart verlangt. Zeitgleich verabschiedete die Staatsduma Gesetze, die die Strafen für Befehlsverweigerung, Fahnenflucht und Meuterei "in Zeiten der Mobilmachung oder im Kriegszustand" erheblich erhöhen. Hals über Kopf beschlossen die Abgeordneten, die Menschen in den besetzten Gebieten im Donbas und im Süden der Ukraine über einen Beitritt zur Russischen Föderation "abstimmen" zu lassen. Die Scheinreferenden laufen unter Zwang und sind mit internationalem Recht nicht in Einklang zu bringen.

Dass die Duma einer Aufnahme der Gebiete zustimmen wird, hat ihr Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin bereits angekündigt. Es steht eine illegale Annexion durch Russland wie im Fall der Halbinsel Krim bevor. Dahinter dürfte das Kalkül stehen, dass die Ukraine und ihre Partner davor zurückschrecken, Gebiete anzugreifen, die - aus Moskauer Sicht - Territorium der Russischen Föderation sind. Wohlweislich brachte Putin in seiner am Mittwoch ausgestrahlten Fernsehansprache russische Atomwaffen ins Spiel. Russlands Militärdoktrin erlaubt deren Einsatz, wenn russisches Staatsgebiet angegriffen wird. "Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen. Dies ist kein Bluff." Putins Kalkül ist, die Menschen im Westen einzuschüchtern, Angst zu verbreiten und damit weitere Waffenlieferungen an die Ukraine zu stoppen. Viele westliche Militärexperten halten einen Atomschlag Russlands jedoch weiterhin für sehr unwahrscheinlich, auch, weil Russland damit weltweit zum Paria würde, selbst unter seinen Verbündeten.

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Unterdessen sorgte der Auftritt von Außenminister Sergej Lawrow im UN-Sicherheitsrat für Irritationen. Er kam erst, als sein Redebeitrag an der Reihe war, hörte also die Statements seiner Amtskollegen nicht. Dann beschwerte er sich, dass die Ukraine ungestraft Verbrechen begehen könne und präsentierte Russland als Opfer. Dann ging er wieder, ohne die Reaktionen der anderen Außenminister abzuwarten.

Dass die Mobilmachung das Kampfgeschehen zugunsten Russlands wenden kann, bezweifeln viele. Ein zentrales Problem der russischen Truppe ist die niedrige Motivation der Soldaten. Sie wird durch die Mobilmachung nicht steigen. Auch die Ausstattung der russischen Armee bleibt ein Problem. Der britische Militärexperte Chris Owen sieht darüber hinaus eine "Kultur des institutionalisierten Lügens": Geschönte Lageberichte führten zu falschen Entscheidungen.

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent mit Schwerpunkt Russland und ehemalige Sowjetrepubliken.