Vorbild Grundgesetz : "Eine Besonderheit im Grundgesetz ist die Betonung der Menschenwürde"
Der Jurist und Osteuropa-Experte Herbert Küpper im Interview über die Vorbildfunktion des Grundgesetzes für andere Länder.
Herr Küpper, ist das Grundgesetz ein "Exportschlager"?
Herbert Küpper: Exportschlager ist der falsche Begriff, denn Deutschland hat das Grundgesetz nicht aktiv in der Welt propagiert. Aber Teile des Grundgesetzes hatten eine Vorbildfunktion bei der Erarbeitung von Verfassungen in anderen Staaten.
Können Sie Beispiele nennen?
Herbert Küpper: Die ehemals sozialistischen Länder in Osteuropa, in denen nach der politischen Wende 1990 neue Verfassungen erarbeitet wurden, haben sich das konstruktive Misstrauensvotum intensiv angeschaut. Einige Länder haben dies in ihre Verfassungstexte übernommen, darunter Ungarn. Die Regelung hat in der juristischen Fachpublizistik viel Aufmerksamkeit erregt, denn mit dem konstruktiven Misstrauensvotum lässt sich eine Regierung stabilisieren. Das Bedürfnis, eine stabile Regierung zu bilden, haben eigentlich alle Staaten. Die Idee ist daher in vielen Ländern aufgegriffen worden.
Herbert Küpper ist Experte für Osteuropa.
Somit war das Grundgesetz vor allem zur Orientierung für ehemals totalitäre Staaten interessant?
Herbert Küpper: Die Idee von Stabilität ist natürlich für einen posttotalitären Staat, der gerade im Totalumbau steht, attraktiv. Das Grundgesetz selbst ist ja im Übrigen auch nach einer Diktatur erarbeitet worden. Zum anderen liegt es einfach auch daran, dass in Osteuropa in der Wendezeit alle dortigen Staaten aus einer sozialistischen Diktatur kamen. Die wenigen Länder, die in letzter Zeit ihre Verfassungen ohne totalitäre Vergangenheit in einem normalen demokratischen Prozess erarbeitet haben, also etwa Finnland oder die Schweiz, haben auch nicht beim Grundgesetz abgeguckt.
Gab es noch andere Rechtskonstruktionen im Grundgesetz mit Vorbildcharakter für andere Länder?
Herbert Küpper: Eine Besonderheit im Grundgesetz ist die Betonung der Menschenwürde in Artikel 1 als Reaktion auf die Nazi-Willkür. Das ist später auch in einigen Staaten Osteuropas übernommen worden. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung steht im Grundgesetz selbst nicht drin, ist aber vom Bundesverfassungsgericht formuliert worden und hat teils sogar als Begriff Eingang gefunden in osteuropäische Verfassungen.
In der Rechtsanwendung hat sich außerdem die Verhältnismäßigkeit als eine spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips durchgesetzt, also einfach gesagt: Der Staat darf nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hat nach dem Zweiten Weltkrieg sogar eine weltweite Karriere gemacht. Erfolgreich war außerdem die Fortentwicklung des alten formellen Rechtsstaats um eine materielle Rechtsstaatskomponente. Die formelle Grundidee war: Alle müssen sich an das Recht halten, auch der Staat. Bei den Nazis hat sich dann aber gezeigt, dass ein Gesetz auch offenkundig Unrecht sein kann. Fortan galt, das Recht, an das sich alle zu halten haben, muss ein Minimum an materieller Gerechtigkeit aufweisen.
Am Grundgesetz orientiert haben sich europäische, asiatische und afrikanische Staaten. Ist die unterschiedliche Kultur kein Hinderungsgrund?
Herbert Küpper: Das ist kein großes Problem. Wo sich deutsche Politikkultur konkret widerspiegelt, nämlich im Föderalismus, hat niemand irgendetwas übernommen. Jedes Föderalsystem ist in seiner Charakteristik einzigartig, da kann man sich schlecht an anderen Ländern orientieren. Kopiert wurden meist Regelungen mit universellem Charakter.
Welche Rolle spielen bei einer Verfassungsreform persönliche Kontakte von Juristen und Politikern?
Herbert Küpper: In Osteuropa waren Juristen, die in der Wendezeit 1990 zur Opposition zählten, zuvor im Sozialismus teils schon etwa als Humboldt-Stipendiaten in Deutschland gewesen und kannten das hiesige Recht gut. Die haben die Anregungen in ihre Länder zurückgetragen. Rumänien hat seine Spezialisten nach Frankreich geschickt und von dort Regelungen übernommen.
Wird die starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Ausland auch wahrgenommen?
Herbert Küpper: Das ist ein gutes Beispiel dafür, was aus dem Ausland in das Grundgesetz übernommen wurde. Die Grundidee stammt aus Österreich von 1920. Daran hat sich das Grundgesetz orientiert. Die genuine deutsche Weiterentwicklung ist die 1951 im Gesetz und 1969 im Grundgesetz verankerte Verfassungsbeschwerde, die in viele Verfassungen übernommen worden ist, von Spanien bis zu den postsozialistischen Ländern.
An welchen Ideen anderer Länder haben sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes noch orientiert?
Herbert Küpper: Wir haben uns zum Beispiel die Grundrechte aus der belgischen Verfassung von 1830/31 abgeguckt. Die belgische Verfassung mit ihrem umfassenden Grundrechtekatalog hat viele Verfassungen beeinflusst und spielte auch bei der Paulskirchenverfassung von 1849 eine Rolle.
Deutschland hat sich dem supranationalen Recht geöffnet, wie bewerten Sie das?
Herbert Küpper: Das Grundgesetz hat sehr spät mit solchen Öffnungsklauseln angefangen. Wir waren jahrzehntelang Mitglied in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), ohne dass das nötig war. Erst als die Souveränitätsübertragungen eine gewisse Qualität erreicht haben, musste das in die Verfassung geschrieben werden. Ähnliches wäre in asiatischen Ländern kaum denkbar, da fehlt die kulturelle und wirtschaftliche Homogenität. Die ASEAN-Staaten umfassen das reiche Singapur und mit Laos eines der ärmsten Länder der Erde, da verbietet sich eine allzu enge Integration.
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Herbert Küpper: Die Verfassung ist so verwundbar wie die politische Kultur, die sie trägt. Mit einem Verfassungstext allein können die Gefahren für die Demokratie nicht bekämpft werden. Solche Probleme müssen politisch gelöst werden. Bei Angriffen auf die Demokratie nutzt es nichts, etwas in das Grundgesetz zu schreiben. Wir haben das bei der Weimarer Verfassung gesehen: Wenn die Mehrheit der Bevölkerung sie nicht mehr verteidigt, dann kollabiert sie. Ich habe bisher aber nicht den Eindruck gewonnen, dass Politik und Gesellschaft durch das Grundgesetz daran gehindert wären, sich gegen solche Gefahren zu wehren.
Professor Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper ist Geschäftsführer des Instituts für Ostrecht und Dozent an der Andrássy Deutschsprachigen Universität Budapest.