Ex-Sowjetstaaten : Hinterhof in Flammen
Der Krieg in der Ukraine schwächt Russlands Position im Südkaukasus. Neue Akteure gewinnen an Einfluss, alte Konflikte brechen wieder auf.
Knapp zwei Jahre ist es her, dass Russland eine sogenannte Friedenstruppe in das zwischen Armeniern und Aserbaidschan umkämpfte Berg-Karabach schickte. In den rund sechs Wochen Krieg waren zuvor mehr als 7.000 Menschen getötet und zigtausende Menschen vertrieben worden. Knapp 2.000 russische Soldaten sollten einen von Russland vermittelten Waffenstillstand durchsetzen.
Massenbeerdigung von aserbaidschanischen Soldaten, die Mitte September bei Kämpfen zwischen Aserbaidschan und Armenien getötet wurden. Beide Länder beschuldigen sich gegenseitig der Provokation.
Mitte September ist die Lage nun erneut eskaliert. Zwar hatte es seit Ende 2020 immer wieder kleinere Zusammenstöße zwischen Armeniern und Aserbaidschanern gegeben, doch jetzt haben die Kämpfe ein neues Ausmaß angenommen.
Laut armenischer Darstellung erfolgten die Angriffe von aserbaidschanischer Seite aus auf armenisches Gebiet. Die Führung Aserbaidschans bestreitet das nicht, sagt aber, man habe auf einen "großangelegten Sabotageversuch" von armenischer Seite reagiert. Armenien habe Wege vermint, die aserbaidschanische Truppen benutzten.
Behördenangaben zufolge kamen Mitte September 200 bis 300 Menschen ums Leben, die weitaus meisten sollen Soldaten sein. Laut Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan flohen mehr als 7.000 Armenier vor den Angriffen. In der UN-Generalversammlung erhob er schwere Anschuldigungen gegen die aserbaidschanische Armee. Es gebe "Beweise für Folterungen, Verstümmelungen gefangengenommener oder bereits getöteter Soldaten sowie für Misshandlungen Kriegsgefangener" durch aserbaidschanische Soldaten.
Aserbeidschan greift neue Ziele an
Neu gegenüber den Kämpfen von 2020 ist, dass Aserbaidschan mehrere Orte auf dem Staatsgebiet Armeniens innerhalb seiner international anerkannten Grenzen angriff, also nicht das umstrittene Berg-Karabach und die widerrechtlich von Armenien besetzten Gebiete Aserbaidschans, sondern armenisches Mutterland. Experten gehen davon aus, dass Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew mit dem Vorgehen Druck ausüben und seine Verhandlungsposition gegenüber Armenien stärken will.
Beide Staaten verhandeln seit längerem unter anderem über Transportkorridore. Aserbaidschan verlangt eine Verbindung in seine Exklave Nachitschewan. Die Autonome Republik ist etwa doppelt so groß wie das Saarland und wird von Armenien und dem Iran umschlossen. Eine direkte Verbindung über armenisches Gebiet ist für die Armenier aber nur schwer zu akzeptieren. Paschinjan steht innenpolitisch unter Druck, weil die Opposition ihm vorwirft, zu schwach gegenüber Aserbaidschan aufzutreten.
Von Russland kommt keine Hilfe
Armenien kann der wirtschaftlichen und militärischen Übermacht der Aserbaidschaner allerdings kaum etwas entgegensetzen. Und die Schutzmacht Russland ist durch den Krieg gegen die Ukraine abgelenkt und macht keine Anzeichen, dem Verbündeten zu Hilfe zu eilen.
Dabei ist Armenien Mitglied in dem von Russland dominierten östlichen Militärbündnis OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) und hat dieses umgehend um Beistand gebeten. Artikel 4 der Charta der OVKS legt fest: "Im Falle einer Aggression gegen einen der Vertragsstaaten (also eines bewaffneten Angriffs, der die Sicherheit, die Stabilität, die territoriale Unversehrtheit und die Souveränität bedroht) gewähren alle anderen Vertragsstaaten diesem Vertragsstaat auf dessen Ersuchen unverzüglich die erforderliche Hilfe. Das schließt militärische Hilfe ein."
Das Bündnis entsandte aber lediglich seinen Generalsekretär, den Belarussen Stanislaw Sass, in die Region, der sich ein Bild von der Lage machen und "Ende Herbst" berichten soll. Richard Giragosian vom "Regional Studies Center" in Eriwan wundert das nicht. "Die anderen Mitgliedstaaten unterhalten engere Verbindungen zu Aserbaidschan als zu Armenien. Deshalb greift die OVKS nicht ein."
Neben Russland und Armenien gehören Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan dem Bündnis an. Zwischen den beiden letzten, kam es im September gleichfalls erneut zu Kämpfen, nur einen Tag nach den Angriffen Aserbaidschans auf Armenien.
Kirgistan und Tadschikistan streiten seit langem über ihren Grenzverlauf. Dieses Mal gab es hundert Tote, 136.000 Menschen wurden evakuiert. Russlands Präsident Putin rief die Präsidenten beider Länder telefonisch dazu auf, eine "weitere Eskalation" zu vermeiden, den Konflikt friedlich zu lösen und bot Hilfe bei einer langfristigen Lösung an. Wie Russland sich diese vorstellt, blieb unklar. Nach sechs Tagen heftiger Gefechte unterzeichneten die Geheimdienstchefs beider Länder zumindest eine Waffenruhe.
USA versprechen Unterstützung
Russlands derzeitige Schwäche lässt Raum für andere Akteure. Wenige Tage nach dem Ausbruch der Gefechte im Südkaukasus reiste die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, nach Eriwan. Sie machte Aserbaidschan für die Eskalation verantwortlich und verurteilte die "illegalen und tödlichen Angriffe Aserbaidschans auf armenisches Gebiet" auf das Schärfste.
Zudem versprach sie, die Vereinigten Staaten würden Armenien im weltweiten Ringen von Demokratien und Autokratien unterstützen. Der armenische Parlamentspräsident Alen Simonjan sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz, die Gewalt habe dank der Vermittlungen der USA beendet werden können. Ein russischer Vermittlungsversuch zwischen Armeniern und Aserbaidschanern war zuvor gescheitert.
US-Außenminister Antony Blinken brachte am Rand der UN-Generaldebatte die Außenminister beider Länder miteinander ins Gespräch. "Es ist Zeit, dass sich die Truppen zurückziehen und die Diplomaten an den Verhandlungstisch zurückkehren", schrieb er auf Twitter. Wenige Tage später flammten die Kämpfe allerdings kurz wieder auf.
Die Türkei gewinnt Einfluss
Die EU vermittelt gleichfalls zwischen Armenien und Aserbaidschan. EU-Ratspräsident Charles Michel verhandelte mehrfach mit Alijew und Paschinjan, bisher allerdings war ein Friedensabkommen außer Reichweite.
Im Südkaukasus steigt außerdem der Einfluss der Türkei. Sie steht militärisch fest an der Seite Aserbaidschans, war zuletzt aber auch auf Armenien zugegangen - das Land am Bosporus ist damit ein ernsthafter Konkurrent Russlands im Ringen um Einflussgebiete.
Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent mit Schwerpunkt Russland und ehemalige Sowjetrepubliken.