Berg-Karabach : Hoffnung auf Frieden - und Angst vor neuer Eskalation
Seit über 30 Jahren ringen Armenien und Aserbaidschan um die Kontrolle von Berg-Karabach. Kann der Konflikt jetzt mit internationaler Hilfe beigelegt werden?
Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew wirkte selbstgewiss, als er am 1. Juni beim Treffen der Europäischen Politischen Union in der Republik Moldau am Verhandlungstisch Platz nahm. Er taxierte EU-Ratspräsident Charles Michel, Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emanuel Macron und seinen direkten Gegner, Nikol Paschinjan, den Regierungschef von Armenien. Als einziger hatte er nicht mal einen Zettel mit Notizen vor sich liegen, lediglich ein Gedeck mit einer Tasse Cappuccino und ein Glas Wasser. Aserbaidschans Langzeitregent, der die Macht in Aserbaidschan von seinem Vater übernommen hat, hält bei den Friedensverhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan alle Trümpfe in der Hand. Der Westen umgarnt ihn mehr denn je wegen der Lieferungen von Rohstoffen. Und die Armenier sind geschlagen.
Zahlreiche Kriege um Bergregion
Seit mehr als 30 Jahren geht es zwischen Armenien und Aserbaidschan darum, wer Berg-Karabach kontrolliert. Völkerrechtlich gehört die Bergregion zu Aserbaidschan, es leben dort aber fast ausschließlich Armenier. Am Ende der Sowjetunion kam es zu mehreren Massakern an Armeniern durch Aserbaidschaner. 1991 erklärten die Armenier ihre Region in Berg-Karabach für unabhängig, wurden aber nie anerkannt. Es kam zu einem Krieg, den die Armenier mit russischer Unterstützung für sich entscheiden konnten. Seitdem lagen sich Armenier und Aserbaidschaner in Schützengräben gegenüber, ständig gab es Schießereien und Tote.
Aserbaidschan blockiert seit Ende 2022 den Zugang zu Berg-Karabach.
Dann griff Aserbaidschan 2020 - mit Hilfe der Türkei und gut finanziert durch Rohstoffexporte - Berg-Karabach an. Die Kämpfe waren kurz und brutal. Russland hielt sich raus. Aserbaidschan eroberte einen großen Teil armenisch besetzter Gebiete zurück. Seit Ende 2022 blockiert es den Zugang zu Karabach, lediglich das Internationale Rote Kreuz kann passieren. Es gibt Schwierigkeiten mit Strom, Wasser und der Gasversorgung. Aserbaidschan spricht von 30.000 bis 40.000 Armeniern, die aktuell noch in der Bergregion leben, Armenien von etwa 120.000.
Berg-Karabach soll mit am Verhandlungstisch sitzen
Armenien hat Berg-Karabach verloren. Diese bittere Erkenntnis scheint sich bei der Regierung Armeniens um den demokratischen Reformer Nikol Paschinjan durchgesetzt zu haben. Sie bietet an, die Region als aserbaidschanisches Staatsgebiet anzuerkennen. Das heiße aber nicht, die Bewohner bedingungslos Aserbaidschan zu überlassen, betont der stellvertretende Außenminister Armeniens, Wahan Kostanjan: "Es geht um die Rechte und die Sicherheit der Menschen dort." Deren Vertreter sitzen nicht mit am Verhandlungstisch, Armenien möchte das ändern - Berg-Karabach soll direkt mit Aserbaidschan verhandeln.
Das aber droht bisher am Widerstand Aserbaidschans zu scheitern, und das weiß auch Sergej Gasarjan, der Außenminister von Berg-Karabach. Er sitzt in der Vertretung des Pseudostaates fest, in einem Gebäude am Rand von Jerewan, und kann aufgrund der Blockade nicht in seine Heimat zurück. "Wir versuchen, über Kollegen und Experten unsere Befürchtungen an alle beteiligten Seiten heranzutragen", sagt Gasarjan und schluckt. Er befürchtet Schlimmstes. "Wir rechnen mit genozidalen Säuberungen, sollte die internationale Gemeinschaft nicht alle Instrumente mobilisieren. Wir brauchen ein internationales Format, das direkte Gespräche zwischen Baku und Stepanakert sicherstellt und dazu führt, dass Vereinbarungen auch umgesetzt werden." Direkte Kritik an der Regierung Armeniens vermeidet er.
Nur wenige Karabach-Armenier können sich zwischen Stepanakert und Armenien bewegen. Dabei hilft das Internationale Rote Kreuz. Es sind vor allem Kranke, die in Armenien medizinisch behandelt werden. Vor der Rückreise sammeln sie sich in Goris, der letzten Stadt vor dem Korridor nach Karabach. Die Luft ist gut, das Grün an Bäumen und Büschen üppig, nachts ist es still und dunkel. Anush Malintsyan hat hier vor knapp zwanzig Jahren ein Hotel für Touristen eröffnet. Seit 2020, als Aserbaidschan anfing, Berg-Karabach zurückzuerobern, beherbergt sie fast nur noch Schutzsuchende und Gestrandete von dort. "Während des Krieges hatten wir 140 Leute hier." Seit Beginn der Blockade seien es 200 gewesen. "Es ist ein Kommen und Gehen."
Anna Awetosjan hat ihre Mutter zu einer Operation nach Jerewan begleitet. Die 25-Jährige wartet seit einer Woche auf eine Möglichkeit, den Korridor passieren zu können. "Wir frühstücken, hängen im Internet, dann gibt es Mittagessen." Sie zeigt das Zimmer: drei Betten, ein Schrank, ein eigenes Bad. Alles sehr einfach. "Es ist sehr nett hier. Wir halten zusammen." Von den Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan hat sie gehört. "Wir hören jeden Tag Nachrichten. Sie machen uns traurig." Sie zuckt mit den Schultern und senkt den Blick. "Es ist unmöglich, mit den Aserbaidschanern in einem Staat zu leben. Wir wollen aber trotzdem nirgendwo anders hin."
"Scholz muss Druck machen"
Im Foyer wartet Michail Poghosjan in einer Sitzgruppe auf das Mittagessen. In der Brusttasche seines gestreiften Polohemds stecken ein Handy und eine Schachtel Zigaretten. "Sagen Sie Ihrer Regierung, dass sie Druck auf die Aserbaidschaner machen muss. Scholz muss das tun." Zur Bekräftigung ballt er die Faust. Er ist pensionierter Offizier der Armee von Karabach. "Die Aserbaidschaner blockieren die Straße. Und dann die vielen Kriegsgefangenen. Warum lassen sie die nicht frei? Wie sollen wir mit denen zusammenleben?"
In Aserbaidschan gibt es keine freie Presse, Oppositionelle sitzen im Gefängnis, es gibt keine fairen Wahlen. Das Europaparlament bewertet die Menschenrechtslage "sehr negativ". Im Hotel sind die Gäste überzeugt, Aserbaidschan wolle die Armenier aus Karabach vertreiben. Und die Regierung von Premierminister Paschinjan hat ihrer Ansicht nach mit der Zusicherung, die Region als aserbaidschanisch anzuerkennen, zu früh alle Trümpfe aus der Hand gegeben.
Zerstörtes Vertrauen
Nach Tausenden von Toten und Vertriebenen und Jahrzehnten geschürten Hasses gibt es kein Vertrauen mehr zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Es gehe darum, die Jahre des Stillstands und der Gewalt hinter sich zu lassen und nach vorn zu schauen, erläutert der stellvertretende Außenminister Armeniens, Kostanjan. Der Druck auf die Regierung, bei den Verhandlungen noch etwas herauszuholen, ist immens. Um sich Rückhalt zu holen, hatte Premierminister Paschinjan nach dem verlorenen Krieg vor zwei Jahren Neuwahlen angesetzt und wurde mit 54 Prozent der abgegebenen Stimmen im Amt bestätigt. "Die Bürger Armeniens haben uns ein Mandat erteilt", sagt Kostanjan, "und auf dessen Grundlage handeln wir. Wir glauben, wir müssen eine gerechte, würdige und dauerhafte Lösung für unsere Region finden, statt in einen neuen Teufelskreis der Gewalt zu geraten."
Es geht längst nicht mehr allein um Berg-Karabach. Seit 2021 rückt Aserbaidschan auch auf international anerkanntes Staatsgebiet Armeniens vor. Auch das hat Russland nicht verhindert. Dabei ist Armenien Mitglied in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, OVKS, die von Russland dominiert wird. Auch Belarus, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gehören dazu. Das Bündnis wurde 2002 gegründet, um einander im Fall eines Angriffs zu helfen.
Armenische Bitte um Beistand
Armenien bat dementsprechend um Beistand. "Russland hatte in dieser Situation bilateral und auch als Partner innerhalb der OVKS Verpflichtungen gegenüber Armenien", erläutert Kostanjan. Dass Russland sie nicht eingehalten hat, sorgt für Unmut in der Bevölkerung, dabei ist deren Bindung an Russland traditionell eng.
Die Regierung Armeniens versucht nun, ihre Sicherheitspartner zu diversifizieren. Einen Bruch mit Russland wagt sie nicht, dazu sind die militärischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu groß. Auch lädt Russlands Machthaber Wladimir Putin immer wieder zu Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan ein. Ein Austritt aus der OVKS stehe nicht auf der Agenda, versichert daher auch Kostanjan. "Aber wir äußern auf höchster Ebene unsere Sorge über die Effizienz der OVKS." Schon das ist für Russland eine Provokation.
Seit Februar dieses Jahres sind außerdem unbewaffnete Beobachter einer EU-Mission (EUMA) auf der armenischen Seite der Frontlinie unterwegs - auf Einladung Armeniens. Zu den aserbaidschanischen Territorien haben sie keinen Zugang, das Mandat ist zunächst auf zwei Jahre befristet. "Wir sagen: Ihr seid nicht allein. Die internationale Gemeinschaft schaut hin", beschreibt der Leiter der Mission, der deutsche Bundespolizist Markus Ritter, die Aufgabe. "Wir sind auch hier, um die Spannungen ein bisschen zu senken, und das kommt bei den Leuten gut an." Dennoch sage man den Menschen in den Dörfern auch, dass man sie nicht physisch beschützen könne. Doch allein die Anwesenheit der EU-Beobachter trage dazu bei, die Situation ruhig zu halten, "weil beide Seiten wissen, wenn sie etwas unternehmen, ruft das ganz schnell die internationale Gemeinschaft auf den Plan".
Russland will Einfluss der Türkei begrenzen
Russland hat eigene Interessen in dem Krieg um Berg-Karabach. Besonders möchte es den Einfluss der mit Aserbaidschan verbündeten Türkei in der Region begrenzen. Außerdem will es künftige Transportkorridore zwischen Aserbaidschan und der Türkei kontrollieren. Die verlaufen über armenisches Staatsgebiet und sollen ausgebaut werden, sobald sich Armenien und Aserbaidschan einigen. Dass Russland sie kontrollieren soll, wurde im Waffenstillstandsabkommen 2020 festgelegt. Die Führung Armeniens spricht inzwischen offen darüber, das selbst zu tun. Auch das ist ein Anzeichen dafür, dass Russlands Macht im Südkaukasus schwindet.
Nur die Opposition in Armenien setzt trotz aller Enttäuschungen weiterhin auf Russland und die OVKS und ist strikt gegen einen Westkurs des Landes. Viele führende Vertreter der Opposition, wie Fraktionschef Seyran Ohanjan, stammen aus Berg-Karabach, Ohanjan war sogar mal Verteidigungsminister des Pseudostaates. Er kündigt Massenproteste an, sollte Paschinjan einen Friedensvertrag mit Aserbaidschan unterzeichnen. Experten glauben aber, dass die Opposition dazu nicht in der Lage ist, viele Menschen zu mobilisiere, da sie wegen ihrer jahrelangen Verstrickungen in Korruption wenig Vertrauen genieße.
Große Erwartungen
Bis zum Herbst soll nun ein Abkommen zwischen Armenien und Aserbaidschan zustande kommen. Für die Regierung Armeniens ist die große Aufgabe der kommenden Wochen, die eigene Bevölkerung mitzunehmen und den Menschen in Berg-Karabach ein Leben in Sicherheit zu ermöglichen. "Wir erwarten, dass Aserbaidschan seine Rhetorik und seine Politik ändert", sagt Vize-Außenminister Kostanjan. "Das wäre eine noble Geste nach Jahrzehnten des Hasses und gegenseitiger Bedrohung." Aber an die EU und andere Länder hat die Regierung Erwartungen: "Sie müssen klare Worte finden und notfalls konkrete Maßnahmen ergreifen, um Armenien zu helfen, einen für alle Partner gerechten Frieden und Stabilität zu erreichen - für Armenien, Aserbaidschan und für die Menschen in Berg-Karabach."
Ob sich das autoritäre Regime in Aserbaidschan darauf einlässt, bleibt abzuwarten. Denn zurzeit hat Armenien nichts in der Hand, um bei den Verhandlungen Druck zu machen.
Der Autor ist freier Korrespondent für Osteuropa.