Asylpolitik in den USA : Mit harter Hand gegen die Migration aus Südamerika
Flüchtlinge aus Latein- und Mittelamerika sollen von einer rigideren Asylpolitik der US-Regierung abgehalten werden. Ob das funktioniert, ist fraglich.
Dauerhafte Entspannung - oder nur die trügerische Ruhe vor dem nächsten Ansturm? Wer in diesen backofenheißen Hochsommer-Tagen an der rund 3100 Kilometer langen Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko ergründen will, warum - gegen alle Befürchtungen - die Zahl der vor Armut, Gewalt und politischer Verfolgung Schutzsuchenden aus dem südlichen Hinterhof der USA plötzlich drastisch abgenommen hat und ob das so bleibt, bekommt bis in Washingtoner Regierungskreise hinein immer wieder die gleiche Antwort: "Wir wissen es nicht wirklich."
Zahl der Festnahmen geht stark zurück
Tatsache ist, dass seit Wegfall des bisher wirksamsten Bollwerks der US-Abschiebungspraxis - "Title 42" - die Zahlen illegaler Grenzübertritte und regulärer Asylbegehren rapide zurückgegangen sind. Das Heimatschutzministerium (DHS) in Washington spricht in vorläufigen Einschätzungen von minus 70 Prozent seit Mitte Mai. In absoluten Zahlen: von über 10.000 am Tag auf rund 3.000. Allein im Juni ging die Zahl der Festnahmen bei illegalem Grenzübertritt im Vergleich zum Vormonat von 204.000 auf 100.000 zurück.
"Title 42", eine unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes während der Corona-Pandemie gegen das Asylrecht in Stellung gebrachte Vorschrift, war im Frühjahr 2020 im Gewitter der Kritik von Menschenrechts-Organisationen unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump in Kraft gesetzt worden. Nachfolger Joe Biden hatte sie auch wegen des Drucks des linken Flügels seiner Demokratischen Partei Anfang Mai 2023 auslaufen lassen. Offiziell waren in den USA die Anti-Corona-Maßnahmen zu diesem Zeitpunkt aufgehoben worden.
Coronabedingter Sonderweg läuft aus
An der Grenze weiter einen Sonderweg zu beschreiten, erschien der Regierung weder legal noch opportun. Mit dem Instrument waren seither rekordverdächtige 2,5 Millionen Menschen rigoros unter Verweis auf die öffentliche Gesundheit an der Grenze zurückgewiesen worden. Ohne "Title 42", so sagte es im Mai stellvertretend für viele Amtskollegen El Pasos Bürgermeister Oscar Leeser (Demokraten), werde die Flüchtlingssituation binnen weniger Tage kollabieren.
Allein gegenüber von El Paso in Texas auf der mexikanischen Seite in Ciudad Juarez säßen an die 35.000 Armutsflüchtlinge aus Latein- und Mittelamerika auf gepackten Koffern, sagte Leeser im US-Fernsehen. Im Norden Mexikos warteten damals nach Erkenntnissen des Heimatschutzministeriums rund 150.000 Flüchtlinge darauf, in die USA zu gelangen. Leeser rief präventiv den Notstand aus und bat Washington um Hilfe. Die Angst, überrannt zu werden, sei real, sagte er. US-Präsident Joe Biden verstärkte den Grenzschutz auf rund 24.000 Beamte. Außerdem schickte er zur Flankierung 1500 Nationalgardisten an die südliche Grenze.
Alejandro Mayorkas, Chef des Heimatschutzministeriums, veröffentlichte sogar eine Warnung in Richtung Süden: Menschenhändler-Ringe hätten das Gerücht verbreitet, Amerika stehe nach dem Wegfall von "Title 42" offen wie ein Scheunentor. "Das stimmt nicht. Sie lügen", sagte Mayorkas. "Riskieren Sie nicht Ihr Leben und Ihre Ersparnisse, nur um aus den Vereinigten Staaten abgeschoben zu werden, sobald Sie hier ankommen." Allein, es kam alles ganz anders.
Rigide Asylpolitik führt zu einem neuen Flaschenhals
Auffanglager beiderseits der Grenze sind heute überschaubar gefüllt. Im Sektor El Paso, sonst der Brennpunkt, befanden sich im Juni 1600 Flüchtlinge in US-Gewahrsam, im Mai waren es 6000. Als Hauptgrund für den Rückgang wird von Flüchtlings-Experten eine rigidere Asylpolitik der US-Regierung genannt, die einen neuen "Flaschenhals" konstruiert habe. Wer Asyl in den USA will, muss perspektivisch in Einreisezentren in Kolumbien und Guatemala - die es noch nicht gibt - vorstellig werden. Um heute zu vermeiden, an der Grenze stante pede abgewiesen oder inhaftiert zu werden, ist zudem ein digitales System etabliert worden. Via Smartphone müssen sich Interessierte mit der App "CPB One" für einen von mittlerweile täglich 1450 Anhörungsterminen bewerben. Wer das umgeht und erwischt wird, wird nicht nur direkt abgeschoben, sondern verwirkt auch für fünf Jahre das Recht, erneut ein Asylgesuch zu stellen. Viele Schutzsuchende schrecke das ab, sie wollten ihre Chance nicht vertun, hört man von kirchlichen Flüchtlingsberatern in El Paso. Grob gerechnet würden im Monat rund 75.000 Termine angeboten.
Das Thema "Illegale Migration" könnte für Joe Biden über den (Miss-)Erfolg seiner Wiederwahl entscheiden.
Nach anfänglichen Technik-Problemen, so Bürgeranwälte, funktioniere das System inzwischen einigermaßen gut. Nutzer müssen mit einer E-Mail-Adresse ein Profil erstellen und als ausländische Staatsbürger ohne Papiere die Option "Ich bin ein Reisender" auswählen. Später geben sie an, ob sie über Land, See oder per Flugzeug in die USA einreisen und ob auch Familienangehörige berücksichtigt werden sollen. Zu den abgefragten Informationen zählen Name, Nationalität und Geburtsort, Geburtsdatum, Beruf, Details zu den Eltern und dem Zielort in den USA. Wenn die Angaben vollständig sind, können die Nutzer einen der zentralen Grenzübergänge sowie Datum und Uhrzeit auswählen, um einen Anhörungstermin zu bekommen.
Nur wer den übersteht, kann bis zum endgültigen Asyl-Bescheid in den USA bleiben, wo in der Mehrzahl der Fälle Verwandte und Freunde als erste Anlaufstelle dienen. Derzeit stecken laut Heimatschutzministerium etwa 1,6 Millionen Asylanträge im Verfahrensprozess. Bis zu einem Gerichtstermin kann es bis zu vier Jahre dauern. Nicht wenige Asylbewerber tauchen während dieser Zeit in die Illegalität ab. Die noch nicht restlos verstandene Entspannung bei den Flüchtlingszahlen hat kurzfristig die Tragödien aus dem Blickfeld verdrängt, die regelmäßig mit der Armutsmigration verbunden sind. Organisierte Banden erpressen und ermorden Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Norden. Im sogenannten "Darién-Gap", einem schwer zugänglichen Gebiet mitten im Urwald zwischen Panama und Kolumbien, verlieren nach Angaben von Hilfsorganisationen jeden Tag Menschen ihr Leben, weil sie den Strapazen nicht gewachsen sind.
Migranten haben monatelange Odyssee hinter sich
Wer im Dunstkreis der amerikanisch-mexikanischen Grenze angekommen ist, oft nach monatelanger Odyssee, hat meist weder materielle Ressourcen noch Widerstandskraft, um Erpressung und Vergewaltigung zu trotzen. Viele, vor allem junge Menschen und Kinder, sind ernsthaft krank.
In den Übergangseinrichtungen der US-Grenzbehörden kam es in diesem Jahr zu mehreren Todesfällen. Im Frühjahr starb der 17 Jahre alte Ángel Eduardo Maradiaga Espinoza aus Honduras in US-Obhut. Kurz danach fand Anadith Tanay Reyes Álvarez, ein achtjähriges Mädchen aus Panama, im Gewahrsam der US-Regierung den Tod. Ihre angeborenen Herzprobleme wurden zu spät erkannt und nicht entsprechend behandelt. Um solche Tragödien zu vermeiden, hat die Regierung etwa in der Nähe von El Paso eine moderne Riesen-Zelt-Anlage mit 34.000 Quadratmeter Nutzfläche für 2500 Asylbewerber hochgezogen.
Für Präsident Joe Biden ist die vorübergehende Beruhigung an der Grenze politisch überlebensnotwendig. Der 80-Jährige strebt 2024 eine zweite Amtszeit an. Das Thema "illegale Migration" rangiert bei sechs von zehn Wählern laut Umfragen auf den vorderen Plätzen. Die Mehrheit ist mit Bidens Performance unzufrieden. Ein Grund: Gouverneure von grenznahen, konservativ regierten Bundesstaaten wie Texas und Florida lassen seit Monaten per Bus zehntausende Flüchtlinge in Metropolen wie New York, Washington oder Chicago transportieren. Nicht ohne Erfolg. New Yorks Bürgermeister Eric Adams, ein Demokrat, beschwert sich regelmäßig im Weißen Haus. Die Aufnahme-Kapazitäten der Weltstadt seien restlos erschöpft, sagt der Afro-Amerikaner.
Im Kongress haben die oppositionellen Republikaner eine breite Front gegen Biden aufgebaut. Ihr Kernvorwurf lautet, dass Biden offene Grenze dulde und hunderttausendfach unkontrolliert Armutsflüchtlinge ins Land lasse, was die nationale Sicherheit gefährde.
Texas: Gouverneur ordnet schwimmende Barrieren im Grenzfluss Rio Grande an
"Fernsehbilder, die an der Südgrenze keine kilometerlangen Menschenaufläufe mehr zeigen, sind für Biden enorm viel Wert", sagen Wahlkampf-Strategen in Washington. Allein, niemand weiß, wie nachhaltig der Rückgang ist. Blas Nuñez-Neto vom DHS sagt, es sei noch zu früh, über den Erfolg des Strategiewechsels zu urteilen. Durch Gerichtsentscheidungen könnten die von Biden angeordneten Maßnahmen gekippt werden, weil sie nicht auf parlamentarische Mehrheiten zurückgehen.
Unterdessen ignorieren führende Republikaner den enormen Rückgang der Asylzahlen und üben sich erneut in medienwirksamer Symbol-Politik. So hat Texas-Gouverneur Greg Abbott (Republikaner) die Installation von schwimmenden Barrieren im Grenzfluss Rio Grande angeordnet. Damit soll Grenzgängern der Übertritt in die USA unmöglich gemacht werden. Die Regierung in Mexiko spricht von illegalen Maßnahmen, die Menschenleben gefährden würden.
Der Autor ist USA-Korrespondent der Funke-Mediengruppe.