Reaktion auf Hamas-Angriff : Dem Nahen Osten droht eine völlig neue Dimension des Krieges
Israel bereitet eine Bodenoffensive in Gaza vor. Ein Häuserkampf dürfte die Resilienz des Landes auf eine harte Probe stellen.
Der 7. Oktober 2023 wird wohl als der schwärzeste Tag in der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes eingehen. Seit dem Holocaust wurden noch nie so viele Jüdinnen und Juden an einem einzigen Tag ermordet, wie von der militanten Hamas am letzten Samstag. Entsprechend düster ist Stimmung in Israel. Die Bilder, die zunehmend an die Öffentlichkeit dringen, die Geschichten, die Überlebende erzählen, zeugen von ungeheuerlicher Bestialität, die in Israel Assoziationen an Pogrome und die Shoah hervorrufen.
Derzeit bereitet die israelische Armee in der Wüste eine mögliche Bodenoffensive im Gazastreifen vor. Kommt es zum Häuserkampf, wird er auf beiden Seiten viele Opfer kosten.
Dass solch eine Tat ausgerechnet im jüdischen Staat geschehen konnte, der sich nach Auschwitz als sicherer Hafen für das jüdische Volk verstand, dass ausgerechnet hier Juden aufgrund des katastrophalen Versagens des eigenen Aufklärungs- und Sicherheitsapparates ihrer Abschlachtung hilflos ausgeliefert waren, löste in der Gesellschaft nicht nur Schockwellen aus, sondern auch unbändige Wut. Premier Benjamin Netanyahu sagte in einer Ansprache kurz nach der Tat, man werde dafür "Rache" nehmen. Die Regierung erklärte, man werde die Hamas zerstören und auslöschen.
Vergangene Operationen mit Hamas waren begrenzter Natur
Nach mehreren Kriegen mit den Islamisten in Gaza, allen voran der Hamas, die in dem Küstenstreifen regiert, aber auch mit dem Palästinensischen Islamischen Jihad, wird Israel jetzt einen gänzlich anderen Krieg führen als bisher. Alle Gaza-Kriege seit 2008 folgten einem gewissen Szenario, das die verfeindeten Parteien kannten. Diese Operationen, wie Israel sie nannte, waren stets begrenzt. Für Israel ging es nur darum, die Islamisten so zu treffen, dass für einige Zeit wieder Ruhe einkehrte. Die wiederum hatten häufig innerpalästinensische politische Gründe, warum sie die Waffengänge provozierten, wollten aber gleichzeitig natürlich den zionistischen Feind, den Besatzer, treffen und verwunden.
Israel griff schon zweimal - 2014 und 2008/2009 - mit Bodentruppen in Gaza ein, doch überwiegend führte die Armee diese Operationen mit Luftschlägen aus. Die Hamas feuerte Tausende ihrer Raketen ab, die allerdings zumeist von dem israelischen Abwehrsystem "Iron Dome" abgefangen wurden. Der Erfolg war eher psychologisch. Israelis mussten bei Raketenalarm mehrmals am Tag in die Schutzräume flüchten, im Süden des Landes kam der Alltag zum Erliegen. Raketenangriffe auf Tel Aviv waren für die Islamisten in erster Linie ein Prestigegewinn und ein Signal an Israel, dass man auch das Herz des Landes erreichen kann. Irgendwann kam es stets zu einem Waffenstillstand. In Jerusalem hieß es dann, man habe den Feind entscheidend geschwächt. Doch das stimmte de facto nie, was in diesen Tagen allen Israelis endgültig klar geworden sein dürfte.
Man muss diese Entwicklung kennen, um zu begreifen, was Israel jetzt aufgrund der Monstrosität des Überfalls aus seiner Sicht tun muss: Die eigene Abschreckungskraft muss wiederhergestellt werden.
Feinde Israels haben Versagen genau verfolgt
Die Feinde Israels haben dessen Versagen genau verfolgt. Iran, der Israel seit Jahren "von der Landkarte streichen" will, investiert viel, um diese Vernichtungsfantasie Realität werden zu lassen. Sein Regime unterstützt seit Jahren die Hamas und den Islamischen Dschihad in Palästina - finanziell, mit Waffen und Know-how. Ebenso die schiitische Hisbollah im Libanon an der Nordgrenze Israels. Sie verfügt über etwa 130.000 bis 150.000 Raketen, viele GPS-gesteuert, die über eine wesentlich größere Sprengkraft als die Raketen der Hamas verfügen und jeden Ort in Israel erreichen können. Ein Krieg mit der Hisbollah wäre für die Heimatfront Israels fatal, aber ebenso für den Libanon. Die israelische Air Force wäre gezwungen, mit aller Gewalt und vor allem schnell die Raketen zu zerstören, um die Infrastruktur des eigenen Landes schützen. Da auch ein solcher Krieg ein asymmetrischer wäre, würde dies für die Zivilbevölkerung im Libanon eine Katastrophe bedeuten. Organisationen wie Hisbollah, Hamas und andere agieren militärisch ganz bewusst aus zivilen Gebieten.
Seit Monaten protestieren viele Israelis gegen den von der Regierung geplanten Umbau der Justiz. Viele entschieden sich, ihren freiwilligen Reservedienst bei der Armee nicht mehr zu erfüllen.
Das Vorgehen der Regierung Netanyahu und der Armee ist deutlich. In kürzester Zeit wurden 300.000 Reservisten einberufen, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es besteht kein Zweifel, dass Israel die Hamas diesmal vernichten will. Allen Feinden, insbesondere dem Iran, gilt es zu signalisieren, dass man sich besser nicht mit dem jüdischen Staat anlegt und dass er nicht so schwach ist, wie er zuletzt erschien.
Streit um Justizreform: Gefahr für nationale Sicherheit Israels
Tatsächlich haben die vergangenen Monate die israelische Gesellschaft gespalten. Die Absicht der Regierung, eine Justizreform umzusetzen, die ein Ende der demokratischen Gewaltenteilung bedeutet hätte, führte über mehr als neun Monate zu regelmäßigen Demonstrationen. Viele Israelis entschieden sich, aus Protest gegen die Regierung ihren freiwilligen Reservedienst bei der Armee nicht mehr zu erfüllen. Es drohte eine allmähliche Erosion der Kampfkraft der stärksten Armee der Welt. Geheimdienste und Militärs warnten Netanyahu, seine Politik würde die Sicherheit des Landes gefährden. Die Feinde Israels könnten angreifen.
Das geschah nun. Und aufgrund ihrer unglaublichen Barbarei erschütterte die Attacke Israel mehr als jeder Raketenangriff. Staat und Gesellschaft sind erst einmal zu allem bereit. Doch dieser Krieg wird die Resilienz der Israelis auf die Probe stellen. Eine Bodenoffensive in Gaza wird nicht nur die Opferzahlen auf der palästinensischen Seite in die Höhe schnellen lassen, viele israelische Soldaten werden im Häuserkampf im engen und dichtbesiedelten Gaza fallen. Die Regierung hat jedoch keine Wahl. Die Israelis erwarten eine überzeugende militärische Antwort - erst recht, da sie Premier Netanyahu und seine Koalition für das Debakel verantwortlich machen. Nicht zu vergessen: Der Hamas ist es bei ihrem Anschlag gelungen, schätzungsweise 150 Menschen als Geiseln nach Gaza zu verschleppen. Das ganze Land erwartet von Netanyahu, dass er all diese Kinder, Frauen, Männer und Alte zurückbringt.
Iran, der Erzfeind, dessen Streben nach der Atombombe in Jerusalem als existentielle Bedrohung angesehen wird, kann sich freuen. Es wird heftig diskutiert, ob Teheran der Hamas die Zustimmung für den Angriff gegeben hat. Dass Iran seit Jahren mit Hisbollah, Hamas, dem Dschihad und anderen den Kampf gegen Israel koordiniert, ist bekannt. So hatte das Schiiten-Regime jetzt auch ein unmittelbares Interesse, die Friedensgespräche zwischen Israel und Saudi-Arabien zu stoppen.
Im Nahen Osten droht ein Flächenbrand
Bereits 2020 war man in Teheran wütend über das "Abraham-Abkommen", das zu einer Normalisierung zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und auch Marokko und Sudan führte. Ein Friedensvertrag mit den Saudis würde Israel nicht nur in der sunnitischen Welt aufwerten, sondern Iran bedrohen. Denn gleichzeitig sollte ein Vertrag mit den USA Realität werden, der den Saudis garantiert, dass die US-amerikanische Armee Riad bei einem Angriff automatisch zu Hilfe eilt. So lauteten zumindest die Forderungen Riads. Das ist jetzt in weite Ferne gerückt.
Nach dem Hamas-Terror dringen die Fraktionen auf Unterstützung Israels. Bundeskanzler Scholz kündigt ein Betätigungsverbot für Hamas in Deutschland an.
Israel muss im eigenen Land wieder in Sicherheit leben können, sagt der SPD-Außenpolitiker Michael Roth. Bei den Deutschen vermisst er Empathie.
Die Gefahr, dass dieser Gaza-Krieg zu einem Flächenbrand wird, ist groß. An der Nordgrenze kommt es mit der Hisbollah immer wieder zu Scharmützeln. Je nach Lage könnte Teheran der Organisation grünes Licht geben, Israel in einen Zwei-Fronten-Krieg zu zwingen, obwohl die USA davor gewarnt haben. Der Flugzeugträger USS Ford befindet sich im östlichen Mittelmeer, bereit, in so einem Fall einzugreifen, um Israel zu schützen. All das könnte ungeahnte Folgen für den Nahen Osten und die gesamte Welt haben. Doch im Augenblick ist Israel entschlossen, die Hamas zu vernichten. Nur: Was, wenn dies gelingt? Wer übernimmt am Tag 1 nach dem Krieg dort die Macht? Darauf hat im Augenblick niemand eine Antwort.
Der Autor war lange Jahre Israel-Korrespondent der ARD und arbeitet heute als freier Journalist in Tel Aviv.