Im Erwachsenenalter lesen und schreiben lernen : Das Problem mit den Buchstaben
Mehr als jeder achte Erwachsene in Deutschland kann nicht richtig lesen und schreiben. Harald Gaul war einer von ihnen – heute räumt er mit Vorurteilen auf.
Schreibt man eigentlich "Rhythmus" oder "Rythmus"? Harald Gaul stellt diese Frage oft. Sie dient ihm als Türöffner und als Beginn vieler Gespräche. Doch was für andere lediglich eine Rechtschreibübung ist, war für ihn lange Zeit unvorstellbar. Noch vor wenigen Jahren hätte er das Wort "Rhythmus" weder lesen noch schreiben können.
Heute erzählt er seine Geschichte, um anderen Mut zu machen. Ehrenamtlich ist er dafür mit einem kleinen Transporter namens Alfa-Mobil in ganz Deutschland unterwegs und informiert darüber, was es bedeutet, als Erwachsener nicht richtig lesen und schreiben zu können - und wie man Hilfe finden kann.
Ein weit verbreitetes, aber oft verstecktes Problem
Gauls Geschichte ist kein Einzelfall. Rund 6,2 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben - das ist mehr als jeder Achte. Diese alarmierenden Zahlen stammen von der sogenannten Leo-Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2018. Für die Untersuchung befragten Forscherinnen und Forscher über 8.000 deutschsprachige Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren.
Im internationalen Vergleich der Industriestaaten liegt Deutschland mit diesen Zahlen leicht über dem Mittelfeld. Das bestätigte die in der vergangenen Woche veröffentlichte PIAAC-Studie, auch bekannt als PISA-Test für Erwachsene. Besonders gut schnitten bei den Lesekompetenzen die Erwachsenen in Finnland und Japan ab, während Portugal, Litauen oder Chile die hinteren Ränge belegten.
Die PIAAC-Studie zeigt zudem, dass die Leseleistungen der Erwachsenen in den vergangenen Jahren zurückgegangen sind. Demnach haben 20 bis 22 Prozent der Erwachsenen, also etwa jeder Fünfte, Probleme, einen Satz wie "Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind bis 10.00 Uhr im Kindergarten ist" zu verstehen. Vor zehn Jahren waren es rund 17 Prozent.
Warum nicht mehr von "funktionalen Analphabeten" gesprochen wird
Menschen, die den Inhalt eines solchen Satzes nicht richtig erfassen können, werden als "gering literalisiert" bezeichnet. Anke Grotlüschen, Professorin für Erwachsenenbildung an der Universität Hamburg und Projektleiterin der Leo-Studie, erklärt, dass man die Betroffenen früher "funktionale Analphabeten" nannte - ein Begriff, den viele jedoch als stigmatisierend empfinden. Zudem seien Analphabeten, also Menschen, die überhaupt nicht lesen und schreiben können, in Deutschland eine Seltenheit.
"Geringe Literalität" darf auch nicht mit Legasthenie, der Lese-Rechtschreib-Störung, verwechselt werden. Während Legasthenie eine angeborene Entwicklungs- und Lernstörung ist, resultiert geringe Literalität daraus, dass Betroffene das Lesen und Schreiben nie richtig gelernt haben.
Harald Gaul weiß, was es heißt, erst als Erwachsener richtig lesen und schreiben zu lernen. Heute teilt er seine Erfahrungen mit anderen.
Auch Gaul hatte bereits in seiner Kindheit große Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. "Mir hat niemand beim Lernen geholfen, weder in der Schule noch zu Hause", erzählt der 57-Jährige.
Die Ursachen für Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben sind vielfältig
Während seine Mitschüler Diktate schrieben, versetzte ihn ein Lehrer in die hinteren Reihen, wo Gaul eigenständig lesen üben sollte. Irgendwie schleppte man ihn durch. "In Erdkunde ist er ganz gut, also kann er bleiben", sagte ein anderer Lehrer. Nach der neunten Klasse verließ Gaul die Schule. "Was sollst du jetzt machen? Du kannst einigermaßen lesen, aber nicht richtig schreiben", fragte er sich damals.
Verschiedene Faktoren können verhindern, dass Kinder richtig lesen und schreiben lernen. Manche erhalten zu Hause keine Unterstützung, andere wechseln zu oft die Schule, was den Lernprozess stört. Auch negative Erfahrungen wie Mobbing, überforderte Lehrkräfte oder gesundheitliche Probleme - etwa Hörstörungen oder neurologische Erkrankungen - können die Entwicklung dieser grundlegenden Fähigkeiten hemmen.
Versagensängste und Vermeidungsverhalten erschweren das Lernen oft zusätzlich und können sich negativ in der Zukunft auswirken, denn: "Man kann Lesen und Schreiben im Erwachsenenalter verlernen, wenn die Fähigkeiten vorher nicht ausreichend gefestigt wurden", erklärt Theresa Hamilton, Leiterin des Grundbildungszentrums Berlin.
Das Grundbildungszentrum: Eine Anlaufstelle für Betroffene
Seit seiner Gründung im Jahr 2014 verfolgt das Grundbildungszentrum das Ziel, Alphabetisierung sichtbar zu machen und Hürden für Betroffene abzubauen. Die Mitarbeitenden informieren, beraten und helfen bei der Vermittlung von Kursen oder weiteren Anlaufstellen. Hamilton betont jedoch, wie schwer es für Betroffene sei, den ersten Schritt zu wagen: "Es kostet Überwindung, sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht."
Die Folgen mangelnder Lese- und Schreibfähigkeiten sind im Alltag allgegenwärtig: Das Lesen von Rechnungen und Packungsbeilagen, Onlinebanking oder eine Entschuldigung für die Schule des Kindes schreiben - all das wird zur Herausforderung. Doch trotz der Schwierigkeiten arrangieren sich viele Betroffene mit ihrem Leben. Laut LEO-Studie sind die meisten berufstätig, sozial eingebunden und - entgegen häufiger Vorurteile - im Besitz eines Schulabschlusses.
Mit ausgeklügelten Strategien verstecken Betroffene ihre Defizite
Viele Betroffene entwickeln ausgeklügelte Strategien, um ihre Defizite zu verbergen. So behaupten sie etwa, ihre Lesebrille vergessen zu haben oder bitten Vertrauenspersonen um Hilfe. Doch Hamilton warnt, dass solche Strategien Abhängigkeiten schaffen und selbstbestimmte Teilhabe erschweren. Auch das "Geheimnis", nicht richtig lesen und schreiben zu können, führt psychisch bei den meisten Betroffenen irgendwann zu einer enormen Belastung: Die ständige Angst, in der sozialen Interaktion als "ungebildet" wahrgenommen zu werden, kann zur Isolation führen.
Auch Gaul hatte Strategien, um sein Problem zu kaschieren. Er arbeitete als Maler und Lackierer oder in einer Fahrradwerkstatt - suchte sich also Berufe, bei denen er kaum lesen und schreiben musste. Doch wenn andere Leute seine Schwäche bemerkten, war das Urteil oft hart: "Manche Menschen glauben einfach, dass man doof ist", erinnert er sich.
Der Weg aus der Unsichtbarkeit kann lang sein
Erst 2011, mit 44 Jahren, wagte Gaul den Schritt, sein Leben zu ändern. "Ich habe beim Jobcenter angerufen und gefragt, wo ich Hilfe bekommen kann." Wenig später begann er einen Kurs für Erwachsene beim Verein "Lesen und Schreiben". Der Unterricht: Acht Stunden täglich, fünf Tage die Woche - ein Vollzeitjob, wie er sagt.
Am Anfang plagten Gaul Selbstzweifel: "Ich habe mich gefragt: Muss ich mich schämen? Kann ich das überhaupt lernen?" Aber mit der Zeit stellten sich Erfolgserlebnisse ein. "Das erste Mal an die Tafel zu gehen, ohne aufgeregt zu sein, und etwas fehlerfrei anzuschreiben - das war ein wunderbares Gefühl."
Heute nutzt Gaul seine Erfahrungen, um anderen Mut zu machen. Beim Alfa-Mobil teilt er seine Geschichte und räumt mit Vorurteilen auf. Das Alfa-Mobil, ein Projekt des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung, verfolgt das Ziel, aktiv auf Menschen zuzugehen und im besten Fall Betroffene oder Angehörige zu erreichen.
Oft ist die Arbeit herausfordernd: Immer wieder kommen Passanten zu Gaul, die kein Verständnis dafür haben, dass nicht alle Erwachsenen lesen und schreiben können. Doch Gaul bleibt geduldig. Erst vor kurzem nahm er sich eine halbe Stunde Zeit, um einer Frau die Ursachen und Auswirkungen von Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen zu erläutern. Am Ende zeigte sie Verständnis. "Das war ein Erfolgserlebnis", berichtet er.
Förderung vieler Projekte nach dem Ende der Alpha-Dekade offen
Auch die Politik versucht, das Problem anzugehen. Mit der von der Bundesregierung in Zusammenarbeit mit den Ländern und zahlreichen gesellschaftlichen Partnern ins Leben gerufenen "Alpha-Dekade" sollen von 2016 bis 2026 die Lese- und Schreibfähigkeiten von Erwachsenen verbessert und die Grundbildung gestärkt werden. Ziel ist es, Bildungs- und Beratungsangebote weiterzuentwickeln und mehr Menschen zu erreichen.
Ein wichtiger Ansatz, findet Hamilton, dennoch kritisiert sie, dass viele Projekte nur durch zeitlich begrenzte Fördermittel finanziert werden. Dabei seien nachhaltige Strukturen notwendig, um langfristig Erfolge zu sichern. Wie es mit der Förderung vieler Projekte nach 2026 weitergeht, bleibt bisher offen.
Die Digitalisierung: Fluch und Segen zugleich
Neben Bildungsinitiativen spielen auch technologische Entwicklung eine zentrale Rolle im Kampf gegen geringe Literalität und können Betroffenen das Leben erleichtern: Sprachassistenten auf Smartphones wie Siri können beispielsweise Texte vorlesen oder Nachrichten diktieren. Aber: "Digitale Technologien sind keine Wunderlösung", warnt die Bildungsforscherin Grotlüschen. "Die meisten Anwendungen erfordern Texteingaben, und genau hier stoßen Menschen mit geringer Literalität an ihre Grenzen". Digitale Technologien können also helfen, aber keine Grundbildung ersetzen.
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Expertinnen und Experten der PIAAC-Studie sehen die Digitalisierung sogar als möglichen Grund für die Verschlechterung der Leistungen im Lesen und Schreiben - denn es gebe immer weniger Kontakt mit komplexen Texten und Aufgaben.
Gaul hat in den vergangenen Jahren nicht nur Freude am Lesen und Schreiben gefunden, sondern auch eigene Texte in einer Schreibwerkstatt verfasst, von denen einige inzwischen sogar in kleinen Büchern veröffentlicht wurden. Und er unterstützt andere auf ihrem Weg - mittlerweile hilft er ukrainischen Freunden beim Ausfüllen von Formularen für Behörden. "Es stärkt das Selbstbewusstsein enorm, wenn ich um Hilfe gefragt werde", sagt er. Sein Weg zeigt, dass es nie zu spät ist, Lesen und Schreiben zu lernen. Und manchmal beginnt dieser Weg mit einer simplen Frage: Wie schreibt man eigentlich "Rhythmus"?
Weitere Informationen für Betroffene und Angehörige erhalten Sie unter anderem beim Alfa-Telefon unter: 0800 53 33 44 55 oder auf der Internetseite des Bundesverbandes für Alphabetisierung und Grundbildung.