Mehr Bildungsgerechtigkeit : So wollen Bund und Länder die Bildungslandschaft verändern
Ein ehrgeiziges Bildungsvorhaben von Bund und Ländern soll im Sommer an den Start gehen - das Startchancenprogramm. Das Ziel: Bildung soll gerechter werden.
Ein ehrgeiziges Vorhaben nimmt Form an: 4.000 Brennpunkt-Schulen in ganz Deutschland sollen in den nächsten zehn Jahren mit insgesamt 20 Milliarden Euro vom Bund und den Ländern gefördert werden. Möglich wird das durch das sogenannte Startchancenprogramm. Es ist laut Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) das bisher größte Bildungsprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik. Den beachtlichen finanziellen Schub dürfen die Schulen eigenverantwortlich nutzen; das Programm setzt auf eine Stärkung der Schulautonomie. Das Geld können sie in Lernmaterial, zusätzliches Personal oder in die Ausstattung der Schule investieren.
Eine der Schulen, die vom Startchancenprogramm profitieren könnte, ist die Grundschule Pusteblume im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf. Dort spricht mehr als die Hälfte der Schülerinnen und Schüler Deutsch nicht als Muttersprache. Eine Lehrerin der Grundschule Pusteblume sagt, sie begrüße das Konzept des Startchanceprogramms, da es langfristig und systematisch für die Entwicklung der gesamten Einrichtung eingesetzt werden könne. Im Vergleich zu anderen Förderungen bündelt es verschiedene Maßnahmen. Die Grundschule könnte das Geld dann noch zielorientierter verwenden.
Start nach den Sommerferien
Das Startchancenprogramm soll nach den Sommerferien starten. Allerdings gibt es bereits jetzt erste kritische Stimmen. Bemängelt wird beispielsweise die Höhe des Budgets und wie das Geld unter den Ländern verteilt werden soll. Der Bildungswissenschaftler Benjamin Edelstein vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat sich im Rahmen des "Expert:innenforums Startchancen" intensiv mit dem Programm beschäftigt. Er meint, dass die Schulpolitik in den vergangenen Jahrzehnten viel zu wenig für den Abbau von Bildungsarmut und Bildungsungleichheit getan habe, und nennt das Vorhaben vor diesem Hintergrund einen bedeutenden Schritt in die richtige Richtung. Dennoch mahnt er: "Geld allein ist nicht die Lösung."
Bereits im Koalitionsvertrag hatten SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP das Startchancenprogramm verankert. Doch die Umsetzung gestaltete sich schwierig. Der Hintergrund: Bildung ist in Deutschland Sache der Länder - das erschwerte die Zusammenarbeit bei dem bundesweit geplanten Startchancenprogramm. Uneinigkeiten gab es unter anderem darüber, wie das Programm finanziert und welche Schulen gefördert werden sollen.
Die drei Säulen des Startchancenprogramms
📝 Lernförderliche Infrastruktur: 40 Prozent der Fördermittel sollen in die bauliche Ausstattung der Startchancen-Schulen investiert werden. Also zum Beispiel in ruhige Lernräume oder Kreativlabore. Großflächig nötige Sanierungsmaßnahmen an Schulen soll das Budget aber nicht finanzieren.
💶 Schulen erhalten "Chancenbudget": 30 Prozent der Fördersumme fließen als sogenanntes Chancenbudget in bedarfsgerechte Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Dieses Geld sollen die Startchancen-Schulen selbstbestimmt einsetzen können, um beispielsweise gezielte Lernförderung in den Kernfächern Deutsch oder Mathematik anbieten zu können.
👩🎨 Multiprofessionelle Teams: 30 Prozent der Mittel können die Startchancen-Schulen für zusätzliche Fachkräfte wie Schulsozialarbeiterinnen oder Sonderpädagogen einsetzen.
Im Februar dieses Jahres kam der Durchbruch - inzwischen sind die Details in Bund-Länder-Vereinbarungen festgehalten. Etwa jede zehnte der rund 40.000 allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen soll von der Förderung profitieren. Rund eine Million sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler sollen erreicht werden. Zum Vergleich: Insgesamt gibt es in Deutschland etwa elf Millionen Schülerinnen und Schüler. Jeder und jede Einzelne kosten den Staat im Schnitt 9.500 Euro im Jahr (siehe Grafik). Welche Schulen am Ende tatsächlich mit dem Startchancenprogramm gefördert werden, entscheiden die Länder.
Kinder sollen im Lesen, Schreiben und Rechen besser werden
Die Bildungsexpertin Dagmar Wolf von der Robert Bosch Stiftung, die sich ebenfalls im Rahmen des "Expert:innenforums Startchancen" mit dem Programm befasst hat, erklärt: "Jede ausgewählte Schule soll über einen Zeitraum von zehn Jahren mit rund einer halben Million Euro pro Jahr unterstützt werden." Das könne nicht alle Probleme und vor allem keine personellen Engpässe lösen, sagt Wolf. Dennoch sei die Gewissheit einer langfristigen Finanzierung ein großer Zugewinn für die Schulen.
Das langfristige Ziel des Startchancenprogramms lautet: Die Kernkompetenzen der Kinder und Jugendlichen im Lesen, Schreiben und Rechnen sollen wieder besser werden. Untersuchungen wie der nationale IQB-Bildungstrend oder die internationale PISA-Studie zeigten zuletzt einen alarmierenden Rückgang der Leistungen in diesen grundlegenden Bereichen. Mit dem nun aufgesetzten Programm soll "die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, an den Startchancen-Schulen halbiert werden", so steht es in dem Eckpunktepapier zum Programm. Bildungsexpertin Wolf hält diese Vorgabe für bedenklich: "Das heißt ja im Umkehrschluss, dass wir 50 Prozent abgehängte Schülerinnen und Schüler einkalkulieren." Sie wünscht sich, "dass wir eine deutlich höhere Quote erreichen können."
Programm umfasst Förderung in drei Bereichen
Neben der individuellen Förderung soll mit dem Programm auch die Chancengerechtigkeit der Kinder und Jugendlichen verbessert werden. Bildungsungleichheit ist ein hartnäckiges Problem in Deutschland. Erfolg in der Schule hängt hierzulande stark vom Elternhaus ab. Einer Studie des ifo-Instituts aus dem Vorjahr zufolge liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind das Gymnasium besucht, wenn beide Eltern kein Abitur haben, bei rund 28,2 Prozent. Hat ein Elternteil Abitur, steigt die Wahrscheinlichkeit schon auf rund 57,9 Prozent. Haben beide Eltern Abitur, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 75,3 Prozent.
Was kostet die Schule? Je Schüler gaben die öffentlichen Haushalte im Jahr 2022 unterschiedlich viel aus.
Das Startchancenprogramm umfasst eine Förderung in drei Säulen. In der ersten Säule geht es um Investitionen in die Lernumgebung. Damit soll die Attraktivität der Schulen gesteigert werden. Geförderte Schulen könnten mit dem Geld beispielsweise lernfördernde Räume, Kreativlabore oder attraktive Arbeitsplätze einrichten. Ohnehin nötige Sanierungsarbeiten, wie die Renovierung der Schultoiletten, sollen nicht aus dem Etat des Startchancenprogramms finanziert werden.
Schulen dürfen selbst bestimmen, wofür sie Geld einsetzen wollen
Zwar kann ein attraktives Lernumfeld die Motivation der Kinder und Jugendlichen steigern, dennoch gibt es Kritik an der Maßnahme. So sagt Bildungsforscher Edelstein, dass es von wissenschaftlicher Seite bisher keine belastbaren Hinweise darauf gebe, dass die Bildungsbenachteiligung über den Schulbau tatsächlich wirksam abgebaut werden könne.
Die zweite Säule des Startchancenprogramms sieht ein Budget, das sogenannte Chancenbudget, für die Entwicklung der Schule und des Unterrichts vor. Mit diesem Geld sollen die Schulen Lösungen umsetzen, die zu den konkreten Herausforderungen vor Ort passen. Beispielsweise könnten Schulen Beraterinnen und Berater finanzieren, die die Schulen langfristig unterstützen. Denkbar ist aber auch, das Geld für Materialien und die gezielte Lernförderung in den Fächern Deutsch oder Mathematik einzusetzen.
Fachkräftemangel bleibt auch in Schulen eine Herausforderung
In der dritten Säule will das Programm die Einstellung multiprofessioneller Teams fördern. Die Startchancen-Schulen könnten dann zukünftig zusätzliche Schulsozialarbeiterinnen oder Sonderpädagogen einstellen - vorausgesetzt, dass sie entsprechende Fachkräfte finden.
Denn der Fachkräftemangel ist eine der großen Herausforderungen der Schulen. Und es ist ein Problem, das die gesamte Umsetzung des Startchancenprogramms betrifft.
Die Ampelkoalition verspricht sich vom Startchancenprogramm einen Paradigmenwechsel. Die Opposition bleibt skeptisch. Die AfD fordert einen Investitionsfonds.
Bildung ist eigentlich Ländersache. Doch immer wieder werden Rufe laut, ob der Bund nicht mehr tun könnte. Uwe Jahn und Ursula Weidenfeld im Pro und Contra.
Die Grünen-Abgeordnete Laura Kraft findet, der Bildungserfolg ist zu stark an Herkunft und Einkommen der Eltern gekoppelt. Das soll das Startchancenprogramm ändern.
So erklärt Bildungsforscher Edelstein, dass viele Schulen aufgrund von akutem Personalmangel am Rande ihrer Kapazitäten arbeiten. In so einer Situation sei es umso schwieriger, die Ressourcen für eine systematische Schulentwicklung aufzubringen und langfristig durchzuhalten.
Das sieht auch die Lehrerin der Grundschule in Berlin Marzahn-Hellersdorf so. Geld oder zusätzliches Material allein seien nicht die Lösung. Sie sagt: "Wir brauchen Personal, das sich mit den Kindern gezielt zusammensetzt und übt".