Immer mehr Briefwähler : Das Kreuz mit dem Kreuz
Die Rekordbeteiligung bei der Briefwahl stellt Wahlverantwortliche und Meinungsforscher vor ein Dilemma.
Ob Angst vor Ansteckung mit dem Coronavirus oder schlicht Bequemlichkeit: Was auch immer der Grund für den aktuellen Trend zur Briefwahl ist - noch nie zuvor haben bei einer Bundestagswahl so viele Wähler in Deutschland ihre Stimme per Brief abgegeben. Die genaue Höhe des Anteils wird zwar erst Mitte Oktober feststehen, wenn auch das endgültige Ergebnis der Wahl zum 20. Deutschen Bundestag bekannt gegeben wird. Doch klar ist bereits, dass die Briefwahlbeteiligung einen neuen Rekord erreicht hat. Er sei ungefähr von einer Verdopplung gegenüber der Bundestagswahl 2017 ausgegangen, so Bundeswahlleiter Georg Thiel im Gespräch mit dieser Zeitung. Damals nutzten gut 13,4 Millionen Menschen die Möglichkeit der Briefwahl. Das habe einer Quote von 28,6 Prozent entsprochen, berichtet Thiel. Seine Einschätzung bestätige sich: "Alles deutet darauf hin, dass der Anteil der Briefwähler dieses Mal höher als 40 Prozent liegen wird."
Herausforderung für Wahlverantwortliche und Organisatoren in den Kommunen
Für Wahlverantwortliche und Organisatoren in den Kommunen bedeutet die Zunahme der Briefwähler jedoch eine enorme logistische Herausforderung. "Da brauchte es mancherorts die drei- bis vierfache Menge Briefwahlunterlagen", erklärt der Bundeswahlleiter. Und: Diese zu bearbeiten, erfordere mehr Personal. Auch die Auszählung der Briefwahlstimmen ist aufwändiger: Die bis zum Wahltag eingegangenen Wahlbriefe werden an separaten Orten sicher verwahrt und von dafür geschulten Wahlvorständen innerhalb eines Wahlkreises geöffnet, die Wahlscheine auf ihre Gültigkeit geprüft und die Stimmen ab 18 Uhr ausgezählt. Auf diesen Mehraufwand hätten sich die meisten Kommunen dank frühzeitiger Prognose "im Großen und Ganzen" gut eingestellt, lautet Thiels Urteil. Ob fehlerhafte oder verspätet zugestellte Wahlbriefe - "kleinere Pannen" gebe es fast immer, bei der Brief- genauso wie bei der Urnenwahl. Beide seien grundsätzlich sicher, betont der Bundeswahlleiter.
Wie es jedoch in Berlin, wo am 26. September neben der Bundestagswahl auch die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, zu den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen und ein Volksentscheid stattgefunden hatten, so gehäuft zu Unregelmäßigkeiten kommen konnte, müsse dringend aufgearbeitet werden, verlangt Thiel. Einen Bericht habe er bei der Landeswahlleitung angefordert. In der Hauptstadt waren in mehreren Wahllokalen die Stimmzettel ausgegangen; zudem häuften sich wegen vertauschter Stimmzettel ungültige Stimmabgaben. In einigen Wahlbezirken muss erneut ausgezählt werden. Problematisch sei auch, dass durch den großen Andrang vor einzelnen Wahllokalen noch am Abend gewählt wurde, so der Bundeswahlleiter. Gemäß der Bundeswahlordnung sei eine Stimmabgabe nach 18 Uhr zwar zulässig - vorausgesetzt, dass sich die Wähler rechtzeitig vorher in die Warteschlange eingereiht hätten. Doch damit wachse eben auch die Gefahr der Wählerbeeinflussung durch zeitgleich veröffentlichte Prognosen, die Wähler über ihr Handy verfolgen könnten, warnt der Bundeswahlleiter.
Überprüfung des Tweets von Hubert Aiwanger
Bewusst verbietet das Wahlgesetz die Veröffentlichung der Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe bis zum Ende der Wahlzeit. Der Tweet, mit dem der Bundesvorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, Prognosen vorab veröffentlicht und nochmals für seine Partei geworben hatte, werde daher nun geprüft, betont Thiel. Auch Situationen wie zuletzt in Berlin gelte es zu vermeiden: "Um 18 Uhr soll die Stimmabgabe beendet sein. Damit das klappt, müssen notfalls statt zwei eben fünf Wahlkabinen aufgestellt werden."
Handlungsbedarf für den Gesetzgeber sieht der Bundeswahlleiter außerdem in der Frage, ob Wahlentscheidungen von Briefwählern in Prognosen einfließen dürfen - eine Frage, die durch die Zunahme der Briefwahl an Dringlichkeit gewonnen hat. Der Bundeswahlleiter meint mit Blick auf das Bundeswahlgesetz: nein. In einem Rechtsstreit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa urteilte der Hessische Verwaltungsgerichtshof nun jedoch, dass ein Veröffentlichungsverbot solcher Prognosen die Freiheit der Berichterstattung beeinträchtige. Für den Wahlleiter ist das ein "Dilemma". Das Urteil müsse "jetzt der Gesetzgeber bewerten".