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Interview zur Wahlrechtsreform : "Der Kult um das Direktmandat ist brüchig"

Der AfD-Wahlrechtsexperte Albrecht Glaser über die Reduzierung der Bundestagsgröße und die Forderung nach einer "offenen Listenwahl".

20.03.2023
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5 Min

Herr Glaser, waren Sie überrascht, als die Ampelkoalition im Kern den AfD-Vorschlag aufgriff, zur Verkleinerung des Bundestages auf Überhang- und Ausgleichmandate zu verzichten und Wahlkreismandate nur noch zuzuteilen, wenn sie vom Listenergebnis der betreffenden Partei gedeckt sind?

Albrecht Glaser: Offen gesagt: ja. Ich erinnere mich, dass im Mai vergangenen Jahres - einen Tag, bevor wir in der Wahlrechtsreform-Kommission überhaupt darüber gesprochen haben - in der "Frankfurter Allgemeinen" ein offener Brief von drei, wie sie selbst schrieben, "autorisierten" Abgeordneten der Ampelkoalition veröffentlicht wurde. Da haben die in der Tat diesen Offenbarungseid geleistet, dass sie genau dieses Modell wählen würden, mit ein paar Verzierungen.

Foto: Deutscher Bundestag/Thomas Köhler/photothek

Albrecht Glaser sitzt seit 2017 für die AfD im Bundestag. Er ist Mitglied des Finanzausschusses.

Dass dabei Direktkandidaten, die in ihren Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten, gegebenenfalls trotzdem kein Mandat erhalten, stört Sie nicht?

Albrecht Glaser: Nein, das stört mich nicht, und zwar aus systematischen, fundamentalen Gründen. Das Mehrheitswahlrecht, mit dem die Direktkandidaten gewählt werden, hat im Unterschied zum Verhältniswahlrecht immer das Phänomen, dass alle Stimmen, die nicht auf den Gewinner entfallen, gewissermaßen verlorene Stimmen sind. Die Engländer, die das Mehrheitswahlrecht haben, sagen dazu salopp: "The winner takes it all". Dass Direktbewerber mit den relativ schlechtesten Ergebnissen in einem Bezirk oder Bundesland ausscheiden, finden wir heute schon im Landtagswahlrecht von Baden-Württemberg und Bayern.

Das könnte aber bedeuten, dass möglicherweise ganze Regionen - wahrscheinlich vor allem Großstädte - nicht mehr von direkt gewählten Abgeordneten im Parlament vertreten sind. Sehen Sie darin kein Problem?

Albrecht Glaser: Auch da sehe ich kein Problem. Erstens ist festzustellen, dass der Kult um das Direktmandat schon deshalb brüchig ist, weil die Kandidaten, die dann ausscheiden, um die 20 Prozent der Stimmen erhalten haben. Früher gab es die Leitidee, der Direktkandidat sei das Transportmedium zwischen Politik und Bürger, hinter dem eine demokratische Legitimation steht, wenn er die Mehrheit der Stimmen in seinem Wahlkreis hat. Das gilt schon lange nicht mehr. Wenn jemand 20 Prozent der Stimmen im Wahlkreis erreicht, heißt das auch, dass 80 Prozent derer, die zur Wahl gegangen sind, ihn gar nicht gewählt haben. Dann zu behaupten, das sei jetzt der regionale politische König, ist eine Legende.

Und zweitens?

Albrecht Glaser: Das Zweite zeigt sich, wenn Sie das Wahlergebnis von 2021 umlegen auf das neue Modell mit einer Begrenzung der Abgeordnetenzahl auf 598. Dann hätten wir 34 unbesetzte Erstmandate, von denen 20 Kandidaten auf aussichtsreichen Plätzen der Landeslisten standen. Die sitzen also ohnehin im Parlament und sind natürlich auch in ihrem Wahlkreis präsent. Zudem ist gar nicht vorstellbar, dass sich ein Abgeordneter ohne Direktmandat nicht auch um seinen Wahlkreis kümmert. Funktional haben Abgeordnete mit Direktmandat keine herausgehobene Rolle gegenüber den anderen.


„Bei der Ampel, behaupte ich, war das rein taktisches Kalkül.“
Albrecht Glaser (AfD)

Für einen guten Listenplatz sind Parteitage und -gremien, mithin die Parteiarbeit, erstmal wichtiger als Wahlkreisarbeit und Wählervotum. Befürchtungen, dass der Abstand zwischen Bürgern und Politik dadurch wächst, teilen Sie nicht?

Albrecht Glaser: Dafür haben wir in unserem Vorschlag ein Gegenrezept, das die Ampelkoalition als einziges nicht von uns übernommen hat, nämlich die "offene Listenwahl". Das bedeutet, dass die Reihenfolge der Kandidaten auf den Landeslisten nicht unveränderlich feststeht, sondern die Wähler diese Reihenfolge mit mehreren Zweitstimmen ändern und Bewerber weiter vorne oder hinten platzieren können. Das ermöglicht ganz nebenbei mehr Partizipation der Wählenden. Wenn dieser Mechanismus existiert, ist das Kümmern um die Wählerschaft so installiert, dass das von Ihnen beschriebene Defizit nicht entsteht.

Derzeit kommt eine Partei, die die Fünf-Prozent-Hürde reißt, trotzdem entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis ins Parlament, wenn sie drei Wahlkreismandate direkt gewinnt. Diese Grundmandatsklausel kippt die Ampel nun, was Sie im Kern auch wollten. Warum?

Albrecht Glaser: Wir wollen sie kippen, weil sie systematisch nicht zu rechtfertigen ist. Wenn ein Direktbewerber, ob parteilos oder von einer Partei, die unter fünf Prozent bleibt, seinen Wahlkreis gewinnt, muss man ihm das Entrée natürlich gewähren; das hat auch das Bundesverfassungsgericht festgestellt. Aber wenn eine kleinere Partei drei Direktmandate gewinnt und die dann noch 30 Kumpels mitbringen dürfen, ist das durch nichts zu rechtfertigen und würde die Idee verfehlen, mit der Fünf-Prozent-Hürde eine Aufsplitterung des Parlaments in allzu viele Grüppchen zu vermeiden. Bei der Ampel, behaupte ich, war das rein taktisches Kalkül.

Inwiefern?

Albrecht Glaser: In der Kommission war sie nicht bereit, das überhaupt zu diskutieren. Meine Schlussfolgerung ist, dass sie dann überlegt hat, wie viele Abgeordnete sie durch die Reform verliert. Um den Schaden für ihre Mandate zu mindern, erhöht sie die Zahl der Abgeordnetensitze insgesamt auf 630, nicht aber die der Direktmandate. Und zum Zweiten stünden die derzeit 32 Sitze, die Die Linke ohne Ausgleichsmandate hat, gegebenenfalls zur Verteilung an die übrigen Parteien zur Verfügung. Damit wird der Leidensdruck der eigenen Partei vermindert, der durch die Verkleinerung des Bundestages entsteht.

Foto: Albrecht Glaser
Albrecht Glaser
Albrecht Glaser (81), seit 2017 AfD-Abgeordneter im Bundestag, gehört in der laufenden Wahlperiode der Kommission zur Wahlrechtreform an.
Foto: Albrecht Glaser

Die Linke, die derzeit nur dank der Grundmandatsklausel in Fraktionsstärke im Bundestag sitzt, beklagt, dass der Wegfall dieser Klausel vor allem darauf ziele, sie aus dem Parlament zu drängen.

Albrecht Glaser: Unsereinem macht das natürlich Plaisir. Dass die Koalition das macht, hat mich aber wirklich überrascht. SPD und Grüne hatten ja 2021 die Hoffnung, dass zumindest rechnerisch eine Koalition mit der Linken möglich wäre. Diese Option würde dann natürlich entfallen.

Drohungen, gegen das neue Wahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen, machen Ihnen keine Sorge?

Albrecht Glaser: Nein. Ich kann mir nicht vorstellen, wo solche Klagen ansetzen wollen. Es ist immer wieder zu hören, dass Direktkandidaten in den Bundestag gewählt seien und ihnen dann das Mandat weggenommen werde. Nein: Er ist nicht gewählt, sondern muss dafür neben der relativen Mehrheit im Wahlkreis die zweite Bedingung erfüllen, kein Überhänger zu sein. Das ist ganz rational und systemisch, und deshalb bin ich der Überzeugung, dass das verfassungsrechtlich nicht problematisch ist.

Ein parteiloser Einzelbewerber erhält auch nach dem neuen Modell bei einem Sieg im Wahlkreis ein Mandat, obwohl es dabei logischerweise keine Zweitstimmenabdeckung gibt. Dann wären es doch wieder mehr Sitze als die Regelzahl?

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Albrecht Glaser: Im Prinzip ja. Ich halte es aber für einen hohen demokratischen Wert, Direktmandate als Wahlchance anzubieten, um ins Parlament zu kommen. Dass es diese Möglichkeit geben muss, hat auch das Bundesverfassungsgericht gesagt. Wenn man sagt, eine Demokratie muss hier offen sein, hätte man in solchen Fällen eben die Regelgröße plus x- das geht gar nicht anders. Ich glaube aber, dass dieser Fall bislang noch nie eingetreten ist. Insofern ist es ein Scheinproblem.

Anders als Parteikandidaten wäre parteilosen Erststimmen-Siegern das Direktmandat garantiert. Ist das nicht ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und mithin verfassungswidrig?

Albrecht Glaser: Das ist vom Denkansatz her richtig. Wenn es aber auch parteilose Mandatsträger geben können soll, hat die entsprechende Zielgruppe auch Nachteile, weil ihr die Unterstützung einer Partei fehlt. Dieser strukturelle Nachteil wird durch dieses kleine Privileg kompensiert. Auch das lässt sich systemisch gut rechtfertigen.