Expertin zu Bürgerräten : "Entscheidend ist, was mit den Empfehlungen der Bürgerräte geschieht"
Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel im Gespräch über den ersten Bürgerrat im Bundestag und Beteiligungsformate in anderen europäischen Ländern.
Frau Geißel, in diesem Jahr hat der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages zum Thema Ernährung stattgefunden. Wie erfolgreich war der?
Brigitte Geißel: Natürlich war es positiv, dass der Bürgerrat stattgefunden hat, aber er war kaum in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden. Daher war der Bürgerrat Ernährung in verschiedener Hinsicht problematisch. Was ich damit meine: Die Bundesregierung hatte ihre Ernährungsstrategie schon abgeschlossen, bevor der Bürgerrat zur Ernährung überhaupt begonnen hatte. Das hat bei vielen Bürgern für Unmut gesorgt. Zudem war das Thema Ernährung sicherlich nicht dasjenige, das den Menschen besonders unter den Nägeln brennt.
Brigitte Geißel ist Professorin für Politikwissenschaften an der Goethe Universität in Frankfurt am Main. Sie forscht zu demokratischen Innovationen, neuen Formen des Regierens und Bürgerbeteiligungsformaten.
Kritik am Bürgerrat kam unter anderem von der Opposition. Sie argumentierte, dass in einer repräsentativen Demokratie gewählte Volksvertreter die politischen Entscheidungen treffen sollten und nicht Bürgerräte. Was sagen Sie dazu?
Brigitte Geißel: In der repräsentativen Demokratietheorie ist die Annahme tatsächlich, dass die Bürgerinnen und Bürger sich durch die von ihnen gewählten Interessenvertreter vertreten fühlen. Die Realität sieht jedoch anders aus, wie alle Umfragen zeigen. Die Bürger haben zunehmend den Eindruck, dass ihre Interessen und Wünsche bei politischen Entscheidungsprozessen ignoriert werden. Wahlen alleine scheinen nicht mehr auszureichen, um die Vertretung der Interessen der Bürger zu gewährleisten. Weitere Formate sind notwendig. Bürgerräte und Volksentscheide können die repräsentative Demokratie unterstützen.
Inwiefern können die Bürgerräte unterstützen?
Brigitte Geißel: Bürgerräte eröffnen theoretisch die zusätzliche Möglichkeit, die Interessen und Meinungen der Bürgerinnen und Bürger direkt in politische Entscheidungsprozesse einfließen zu lassen. Traditionell werden bei Gesetzgebungsvorhaben oder anderen politischen Entscheidungen Experten und organisierte Interessengruppen angehört. Bürgerräte aber bringen mit der Perspektive des "einfachen Bürgers", der sich nicht unbedingt politisch beteiligt oder in Interessengruppen organisiert ist, eine zusätzliche Komponente ein. Das ist der große Vorteil eines Bürgerrates.
Wie unterscheiden sich Bürgerräte von anderen Formen der Bürgerbeteiligung?
Brigitte Geißel: Der wahrscheinlich markanteste Unterschied liegt in der Methode der Zufallsauswahl, die bei Bürgerräten angewandt wird. Im Gegensatz zu anderen Beteiligungsformaten werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht aufgrund von Interesse oder Engagement ausgewählt, sondern durch ein sogenanntes stratifiziertes Los-Verfahren. Das heißt, Personen werden zufällig ausgewählt und eingeladen an dem Bürgerrat teilzunehmen und von denen, die partizipieren wollen, wählt man die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann so aus, dass sie ein möglichst gutes Abbild der Bevölkerung darstellen: also die Hälfte Männer, die Hälfte Frauen und Personen aus allen Altersgruppen und mit verschiedenen Bildungsabschlüssen. Die Überrepräsentation der "üblichen Verdächtigen", also der gut gebildeten Männer im mittleren oder höheren Alter, soll so vermieden werden.
Wie wichtig ist es, dass Entscheidungsträger die Vielfalt der Bevölkerung widerspiegeln?
Brigitte Geißel: Die Frage ist natürlich immer: Können Menschen mit anderem soziodemografischem Hintergrund, also beispielsweise Alter, Geschlecht oder Bildung, auch Interessen von Menschen vertreten, denen sie nicht angehören? Also können Männer Interessen von Frauen vertreten und umgekehrt? Zahlreiche Studien etwa aus Deutschland, den USA oder Niederlanden zeigen, dass soziodemografischen Merkmale der Entscheidungsträger nicht unerheblich sind. Politiker neigen oft dazu, die Interessen der oberen Gesellschaftsschichten zu vertreten. Bürgerräte können etwas entgegensteuern, da sie zumindest die Bürgerinnen und Bürger einladen, die sich eher nicht beteiligen. So können diese ihre Perspektiven einbringen und Gehör finden.
In anderen europäischen Ländern gibt es ebenfalls Bürgerräte. Wie unterscheiden sie sich vom deutschen Ansatz?
Brigitte Geißel: Irland gilt oft als Vorzeigebeispiel: Dort begann die Tradition der Bürgerräte mit einem zivilgesellschaftlich organisierten Bürgerrat, der so erfolgreich war, dass die Politik beschloss, Bürgerräte auch bei der Überarbeitung der Verfassung einzubeziehen. Es wurden also Bürgerräte eingerichtet, deren Empfehlungen anschließend in einem Volksentscheid zur Abstimmung standen - ein Verfahren, das wir in Deutschland auf Bundesebene nicht kennen, da es hier keine bundesweiten Volksentscheide gibt.
Gibt es in anderen Ländern weitere Unterschiede?
Brigitte Geißel: Ostbelgien, ein Teilstaat von Belgien, hat Bürgerräte sogar institutionalisiert. Das heißt, dass das ostbelgische Parlament beschlossen hat, Bürgerräte dauerhaft einzusetzen. Diese Räte werden nun kontinuierlich zu den Themen einberufen, über die das Parlament diskutiert und abstimmt. Diese Institutionalisierung ist neu und wird derzeit auch in Irland diskutiert und vermutlich bald umgesetzt.
Können Bürgerräte auch negative Effekte hervorrufen? Beispielsweise wenn die Empfehlungen der Teilnehmenden nicht umgesetzt werden.
Brigitte Geißel: Definitiv. Das belegt beispielsweise auch eine spanische Studie: Wenn Beteiligungsverfahren ohne echte Konsequenzen bleiben oder als manipulativ wahrgenommen werden, kann das zu einer stärkeren Frustration bei den Teilnehmenden führen, anstatt die politische Unterstützung zu erhöhen. Daher sage ich immer: Besser gar kein Beteiligungsverfahren als ein schlecht gemachtes.
Was ist Ihrer Meinung nach entscheidend für ein erfolgreiches Beteiligungsverfahren?
Brigitte Geißel: Ein gutes Beteiligungsverfahren muss neutral und nicht manipulativ wirken. Es muss außerdem echte Konsequenzen haben. Das kann zum Beispiel in Form eines Bürger- beziehungsweise Volksentscheids geschehen, wie es in Irland der Fall ist. Wichtig ist auch, dass sich die Politik ernsthaft mit den Empfehlungen auseinandersetzt und transparent begründet, warum bestimmte Empfehlungen nicht umgesetzt werden.
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Auf europäischer Ebene gab es 2021 den Bürgerrat "Conference on the Future of Europe". Können solche länderübergreifenden Bürgerräte dazu beitragen, die europäische Identität zu fördern oder das Vertrauen in die EU stärken?
Brigitte Geißel: Das hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab. Entscheidend ist, was mit den Empfehlungen der Bürgerräte geschieht. Wenn sie unbeachtet in der Schublade verschwinden, wird das kaum zur Stärkung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. Ebenso wichtig ist, wie Medien und Bürger in Europa diese Bürgerräte wahrnehmen - ob sie sie als relevante und spannende Neuerung ansehen, nur dann können sie Akzeptanz in der europäischen Gesellschaft finden. Nach der "Conference on the Future of Europe" wird nun darüber diskutiert, ob solche europäischen Bürgerräte institutionalisiert werden sollen - aber das ist noch offen.
Werden Bürgerräte in der Zukunft eine größere Rolle in der politischen Entscheidungsfindung spielen?
Brigitte Geißel: Viele Politiker setzten sich derzeit für Bürgerräte ein. In Deutschland haben beispielsweise die SPD und die Grünen das Thema Volksentscheide zurückgestellt und setzten stärker auf deliberative Verfahren wie Bürgerräte. Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Politik bleibt den Abgeordneten aber auch kaum eine andere Wahl. Ich glaube, mehr Bürgerbeteiligung ist generell sinnvoll, um den Menschen wieder das Gefühl zu geben, Teil der Politik zu sein. Ich plädiere dabei für eine Verknüpfung von Bürgerräten und Volks- beziehungsweise Bürgerentscheiden.