Editorial : Dämpfer für die Koalition
Die Ampel hat bei der Abstimmung über die Impfpflicht eine Niederlage eingesteckt. Das Ergebnis kann die Debatte weder befrieden noch die Polarisierung beenden.
Die Ampel hat mit 416 Sitzen im Bundestag eine komfortable Mehrheit. Zumindest jede Verfahrensfrage der Geschäftsordnung müsste sich damit im Sinne von SPD, Grünen und FDP lösen lassen. Sie scheiterten mit ihrer Vorstellung von der richtigen Abstimmungsreihenfolge in der Impfdebatte dennoch: Die drei Fraktionen konnten ihre Verfahrensmehrheit im Bundestag nicht mehr aufbringen. Nun wird man diese Geschäftsordnungsfrage kaum zur Gewissensentscheidung erklärt haben, trotzdem folgten nur 339 Koalitionäre dem Vorschlag ihrer Fraktionsführungen. Die Opposition hatte plötzlich die Verfahrenshoheit im Bundestag.
Dies blieb nicht die einzige Schrecksekunde für die Koalition. Zu deutlich war die anschließende Niederlage bei der Abstimmung über die Impfpflicht. Dabei war Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bis zuletzt überzeugt davon, dass er für seinen Impfkompromiss eine Mehrheit bekommen würde. Am Ende gab es aber nahezu ausschließlich von Rot-Grün Stimmen für den Kompromiss. Die übrigen Fraktionen stimmten annähernd geschlossen dagegen. Bei einem solch eindeutigen Ergebnis bleibt rätselhaft, woher die zuvor verbreitete Zuversicht kam.
Ausgerechnet in der wichtigsten Woche seiner bisherigen Amtszeit unterliefen dem Gesundheitsminister Fehler. Es zeichnet ihn aus, dass er dies auch zugibt. "Hier habe ich einen Fehler gemacht", sagte Lauterbach in einer ZDF-Talkshow zu seiner Kehrtwende in der Frage der Isolierungspflicht bei einer Corona-Infektion. Ein Satz den man selten hört. Fehler einzugestehen ist eine Stärke. Darauf hat auch der ehemalige Fraktionsvorsitzende von CDU/CSU, Ralph Brinkhaus, hingewiesen, vor einem Jahr in derselben Talkshow.
Die Debatte über die Impfpflicht wirkte offen und ehrlich, war aber keine Sternstunde wie es andere Gewissensentscheidungen häufig waren. Sie war es auch deswegen nicht, weil der Impuls für eine fraktionsübergreifende Lösung in diesem Fall nicht aus dem Parlament selbst kam. Die Angelegenheit wurde durch die Regierung zur Gewissensfrage erklärt. Doch nicht alle Abgeordneten wollten sich das von der Regierung diktieren lassen. Das Ergebnis: Die Entscheidung konnte die Debatte weder befrieden noch die Polarisierung beenden. Es bleibt die Hoffnung, dass die Schrecksekunden in diesem Verfahren ein Weckruf waren.